taz.de -- Kolumne Psycho: Die geerbte Angst

Die Nachkriegsgeneration scheut sich vor psychischen Diagnosen. Dafür gibt es Gründe. Die Jüngeren empfinden Diagnosen eher als befreiend.
Bild: Psychologische Schubladen empfinden viele als Gefahr – für andere bedeuten sie Freiheit

Am aufschlussreichsten bei Lesungen ist ja immer die Fragerunde. Wie neulich, als sich ein Mann Ende 50 zu Wort meldete und erzählte, sein Sohn habe seit Neuestem auch eine „sogenannte Angststörung“. Man konnte die Anführungszeichen regelrecht hören. Ob die Gesellschaft nicht einfach akzeptieren könne, dass wir alle unterschiedlich sind? Manche seien eben sensibler als andere, er verstehe nicht, warum man dafür eine Diagnose brauche, zumal sich die genaue Bezeichnung im ICD-Katalog der WHO immer wieder ändere. Ich kenne diese Reaktion – von meinen Eltern und vielen anderen Menschen in ihrem Alter. Und mittlerweile glaube ich nicht mehr an einen Zufall.

Die heute Ende 50-Jährigen sind die Kinder derjenigen, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Damals wurden psychisch Kranke reihenweise zwangssterilisiert oder ermordet. Ein solcher Schock sitzt tief – und macht stumm. Über das, was der Schwester passiert war, sprach man meistens nicht einmal innerhalb der Familie, und psychische Probleme, auch die der eigenen Kinder, wurden kleingeredet und verharmlost. Hauptsache, da draußen merkte niemand etwas. Es könnte ja wieder passieren. Wer so aufwächst, hinterfragt diese Haltung im Zweifel erst, wenn das eigene Kind von einer psychischen Krankheit betroffen ist.

Dass diese Chance gar nicht mal so gering ist, haben Forscher bei den Nachkommen von Traumaopfern festgestellt, unter anderem durch Studien mit Holocaust-Überlebenden. The-Atlantic-Redakteur Scott Stossel schreibt in seinem Buch „Angst“: „Bei Kindern und sogar Enkeln von Holocaust-Überlebenden lässt sich eine stärkere psychophysiologische Stress- und Angsterregung messen – etwa in Form eines erhöhten Wertes verschiedener Stresshormone – als bei Menschen ethnisch ähnlicher Gruppen, deren Eltern und Großeltern dem Holocaust nicht ausgesetzt waren.“ Und Stress begünstigt wiederum psychische Erkrankungen. Ein Teufelskreis, der sich nur durchbrechen lässt, wenn man sich damit auseinandersetzt.

Mal angenommen, der Sohn des Mannes bei der Lesung hätte keine „sogenannte Angststörung“, sondern Krebs. Würde der Vater dann auch sagen: Ach, manche haben einfach mehr Zellen als andere, das ist noch lange kein Grund für eine Diagnose? Vermutlich nicht. Seinem Kind zu vermitteln, dass es genau richtig ist, so wie es ist, ist zweifellos das Wichtigste, was Eltern tun können. Aber es ist kein Widerspruch, gleichzeitig anzuerkennen, wenn es ein ernsthaftes Problem hat.

Für viele Ältere bedeutet eine psychische Diagnose, in eine Schublade gesteckt zu werden, die sich nie wieder öffnen lässt. Für viele Jüngere bedeutet sie Freiheit – denn erst eine Schublade ermöglicht es, sich zu sortieren. Außerdem teilt man sich den Platz mit anderen, denen es genauso geht. Wenn also jemand zugibt, dass er ein ernstes Problem hat, und sich Hilfe sucht, ist das ein Grund zu feiern.

14 Nov 2018

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Franziska Seyboldt

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