taz.de -- Rückgabe von Gebeinen aus Kolonialzeit: Die Schuldfrage

Vor über 100 Jahren wurden Gebeine der im Kolonialismus ermordeten Herero und Nama geraubt. Einige werden jetzt zurückgeführt.
Bild: Auch geraubte Schädel aus der Sammlung der Charité werden übergeben (Archivbild von 2011)

BERLIN taz | Früh am Dienstagmorgen ist [1][Gerhard Ziegenfuß aus Ennigerloh bei Münster] in außergewöhnlicher Mission in den Zug nach Berlin gestiegen: Heute gibt der 78-Jährige den Menschenschädel aus Namibia zurück, den sein Großonkel, der Missionar Alois Ziegenfuß, während der Kolonialzeit nach Deutschland geschickt hatte. Es ist der Moment, auf den er zehn Jahre gewartet hat. Seit 2008 versucht der pensionierte Biologielehrer, das dunkle Erbe seiner Familie in Würde zurück nach Namibia zu bringen. „Ich bin wirklich erleichtert. Ich hatte die Bürde, die wir tragen, in Form eines Schädels ja immer vor Augen“, sagt Ziegenfuß, als er in Anzug und Turnschuhen am Berliner Hauptbahnhof in ein Taxi zum Französischen Dom steigt.

Dort wird er ein offizielles Übergabeprotokoll unterschreiben, es ist der juristische Teil der dritten Restitution von Human Remains nach Namibia. Auf der Liste steht unter Institutionen wie der Charité Berlin, elf Schädel, fünf Skelette, ein Schulterblatt, und der Universität Greifswald, drei Schädel: Gerhard Ziegenfuß, Ennigerloh: ein Schädel (in Privatbesitz).

Am Mittwoch werden in einer Zeremonie im Französischen Dom 27 Human Remains aus deutschen Sammlungen an Namibia zurückgegeben. Es sind die menschlichen Gebeine von Nama und Herero, die während der Kolonialzeit geraubt und unrechtmäßig nach Deutschland gebracht worden sind.

In Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, schlug die Kolonialtruppe den antikolonialen Widerstandskampf der Herero und Nama in den Jahren 1904 bis 1908 gnadenlos nieder. Der Vernichtungskrieg gegen Herero und Nama gilt als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Schätzungsweise 100.000 Herero und Nama starben in der Omaheke-Wüste oder in den Konzentrationslagern. Militärärzte trennten die Köpfe der Leichen ab und schickten sie als Forschungsobjekte nach Deutschland. Die rassenanthropologischen Untersuchungen an den Schädeln dienten damals dazu, rassistische Theorien zu untermauern und den kolonialen Herrschaftsanspruch zu legitimieren.

Bisher keine Entschuldigung

Seit Jahren verhandeln die deutsche und die namibische Regierung über die Aufarbeitung des Genozids. Die Bundesregierung bezeichnet die Verbrechen seit 2016 zwar als Völkermord, aber bisher gab es keine offizielle Entschuldigung. Herero und Nama sitzen nicht mit am Verhandlungstisch. Weil sie sich von den Verhandlungen ausgeschlossen und von der eigenen Regierung nicht ausreichend vertreten fühlten, haben Opferverbände im Januar 2017 in New York Sammelklage gegen Deutschland eingereicht. Sie fordern die offizielle Anerkennung für den Genozid, eine Entschuldigung und Wiedergutmachung.

„Wir wurden so lange verletzt, und niemand hat zurückgeschaut, unsere Regierung nicht und schon gar nicht die deutsche Regierung. Deshalb mussten wir eine andere Möglichkeit finden, unsere Stimme hörbar zu machen“, sagt Vepuka Kauari. Die Mitgründerin der Association of the Ovaherero/Ovambanderu Genocide in the USA (AOG) ist aus New York angereist, um in Berlin Zeugin der Übergabe von Human Remains zu sein. 2015 besuchte sie in Berlin eine Institution, in deren Kellern menschliche Gebeine aus Namibia lagerten. Die Mitarbeiterin sei mit fünf weißen Taschen und den Worten „Das sind die Remains. Sie können sie jetzt ansehen“ auf sie zugekommen. „Es war surreal. Das war ein Moment, den ich nie vergessen werde“, sagt Kauari. „Ich komme nun zurück zu dieser Restitution, um abzuschließen.“

Schon im Vorfeld wurde die Übergabezeremonie im Französischen Dom von Opferverbänden und postkolonialen Aktivist*innen heftig kritisiert. Denn weder Paramount Chief Vekuii Rukoro, der traditionelle höchste Repräsentant der Herero, noch Ida Hoffmann, Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des Nama Genocide Technical Committee, waren offiziell nach Berlin eingeladen worden. Auch die Aktivist*innen des Bündnisses „Völkermord verjährt nicht“ waren von der namibischen Botschaft von der Zeremonie ausgeschlossen worden.

Es scheint, als versuchte die Regierung, die dritte Restitution von Human Remains nach Namibia über die Bühne zu bringen, ohne Kritik an der schleppenden Aufarbeitung des Völkermords zu riskieren. In einer Presseinformation aus dem Auswärtigen Amt zu den Hintergründen der Restitution wird der Genozid mit keinem Wort erwähnt.

Doch die Vertreter*innen der Herero und Nama kamen auf eigene Faust nach Berlin. „Ich bin die Initiatorin der Diskussion über den Genozid, ich fordere seit 1991, dass der Völkermord anerkannt wird“, sagt die namibische Nama-Aktivistin Ida Hoffmann am Sonntagabend in der Lobby ihres Hotels. Auch wenn sie sich nicht zu den Einladungen äußern will, ist ihr anzuhören, dass sie vor den Kopf gestoßen ist. Dass sie nicht zur Restitution in Berlin eingeladen ist, hat sie aus der Zeitung erfahren. Für sie ist klar: „Ich muss dabei sein, deshalb bin ich hier.“ Die Art und Weise, wie das Auswärtige Amt und die namibische Botschaft die Restitution organisieren, kritisiert sie als Inszenierung. „Wie können wir von Versöhnung sprechen und einander die Hände reichen, wenn es noch weitere Human Remains in Deutschland gibt?“, fragt sie.

Keine Entschuldigung

Vepuka Kauari empfindet das Vorgehen der Bundesregierung als „respektlos und unmenschlich“. Die Herero-Aktivistin aus New York kritisiert, dass die Zeremonie in einer Kirche stattfindet und nicht im Bundestag. „Unsere Vorfahren sind nicht durch die Kirche hierher gekommen“, sagt sie. Kauari erwartet, dass der Bundestag eine Resolution ähnlich der Armenien-Resolution von Juni 2016 verabschiedet und dass es eine offizielle Entschuldigung für den Genozid von der Bundesregierung gibt – am besten gleich bei der Rückgabe der menschlichen Gebeine.

Dass es dazu kommt, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Zur Übergabe der Human Remains hat sich weder der Bundespräsident noch der Außenminister angekündigt. Nur die Staatsministerin für Internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, Michelle Müntefering, wird als Vertreterin der Bundesregierung anwesend sein. Und Müntefering hat der Nachrichtenagentur AFP zufolge bereits bei einer Pressekonferenz am Montag gesagt, eine offizielle Entschuldigung lehnten beide Regierungen mit der Begründung ab, die Restitution sei nicht der richtige Rahmen dafür.

„Es scheint, als könne Berlin nicht die richtige Sprache und Antwort auf die Frage finden, wie mit historischer Schuld umgegangen werden, wie um Verzeihung gebeten werden sollte“, sagt der Historiker und Kolonialismus-Experte Jürgen Zimmerer. Er fordert einen grundsätzlichen Neustart in der Aufarbeitung des Genozids. „Bisher wurde alles getan, um eine öffentliche Diskussion in Deutschland über den richtigen Umgang mit historischer Schuld zu vermeiden.“

28 Aug 2018

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AUTOREN

Elisabeth Kimmerle

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