taz.de -- Sozialpädagoge über Türkei-Wahl: „Nicht alle sind Antidemokraten“

Knapp eine halbe Million Wähler*innen in Deutschland haben Erdoğan gewählt. Die Hintergründe erklärt der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde.
Bild: Sie wollen einen starken Machthaber in der Türkei: Erdoğan-Fans in Berlin

taz: Herr Sofuoğlu, in Deutschland haben zwei Drittel der Wähler*innen für Erdoğan gestimmt. Überrascht Sie das?

Gökay Sofuoğlu: Ich bin nicht überrascht. Im Vorfeld habe ich eine gewisse Wechselstimmung wahrgenommen – viele Leute haben angekündigt, nicht für Erdoğan zu stimmen. Das war dann ein Ansporn für AKP-Anhänger, in den letzten Tagen noch einmal richtig zu mobilisieren. Dabei waren sie wohl erfolgreich.

In Deutschland scheinen viele überrascht, dass Menschen, die hier leben, für einen Autokraten wie Erdoğan stimmen.

Hier in Deutschland wird auch die AfD gewählt – von Menschen, die hier leben. Es handelt sich um ein internationales Phänomen, das auch von der Türkei nicht fernbleibt. Man sucht nach einem starken Führer und nach einer starken Nation. Und genau das bietet Erdoğan an. Außerdem sind viele Türken, die nach Deutschland gekommen sind, keine Akademiker und sehr konservative Wähler.

Welche Gründe gibt es für hier lebende Türk*innen, für Erdoğan zu stimmen?

Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Die Menschen kennen die Türkei nur aus ihren Urlauben – und dort sehen sie keine Menschenrechtsverletzungen. Was sie sehen, sind die Flughäfen, die Autobahnen, die Krankenhäuser, die aus ihrer Sicht Erdoğan zu verdanken sind. Fast die Hälfte der Menschen wählt ihn, weil er – aus ihrer Sicht – aus der armen Türkei eine Weltmacht gemacht hat.

Was hat das Wahlverhalten der in Deutschland lebenden Wähler*innen mit der politischen Situation hier zu tun?

Die türkische Innenpolitik ist seit einigen Jahren sehr präsent in Deutschland. Ich muss immer wieder kommentieren, was in der Türkei passiert, und selten, was in Deutschland passiert. Jede Entwicklung in der Türkei wird mit dem Leben in Deutschland in Verbindung gebracht. Dabei habe ich keinen Italiener getroffen, der Stellung zu der neuen Regierung in Italien nehmen musste. Dass andauernd über Erdoğan gesprochen wurde, hat auch dazu geführt, dass sich viele denken: Wenn alle Welt von ihm redet, kann er ja so schlecht nicht sein.

Hat das auch etwas mit der Enttäuschung von deutscher Politik zu tun?

Auf jeden Fall. Gerade in der Debatte über die Fotos von Gündoğan und Özil mit Erdoğan gab es eine gewisse Türkei- und Islamfeindlichkeit. In so einer Situation denken viele: Wir brauchen eine starke Führung, die für uns spricht. Und Erdoğan hat ihnen das Gefühl gegeben: Ihr seid nicht allein.

Cem Özdemir sagt, der Jubel wegen Erdoğans Sieg sei als eine Ablehnung der liberalen Demokratie zu verstehen.

Solche Aussagen führen nur zu einer weiteren Polarisierung. Wir brauchen jetzt eine Versachlichung der Politik und eine differenzierte Haltung gegenüber den AKP-Wählern. Das sind nicht zu hundert Prozent Antidemokraten, die ein Problem mit liberalen Haltungen haben.

Was bedeutet das für die türkische Gemeinschaft in Deutschland?

Ich sage mal, was ich mir wünsche: dass man die Wahlen als beendet erklärt und zur Tagesordnung zurückkehrt. Die Zukunft der Menschen hier wird in Berlin entschieden und nicht in Ankara.

25 Jun 2018

AUTOREN

Miriam Schröder

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