taz.de -- Türkei-Referendum in Deutschland: Was ist los, Almancılar?
Warum stimmen so viele Deutschtürk*innen für Präsident Erdoğans Verfassungsänderung? Unsere Autorin hat sich auf die Suche gemacht.
Berlin taz | „Bemerkenswert“ – findet Kenan Kolat, Vorsitzender der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP in Berlin das Ergebnis der Abstimmung über die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei in der deutschen Hauptstadt. Es lautet: Pattsituation für beide Lager – und in keiner anderen deutschen Stadt haben mehr Wahlberechtigte mit Hayır (Nein) gestimmt.
Anderswo in der Bundesrepublik stimmten die türkischen Wähler*innen laut dem staatlichen Fernsehsender TRT zu 63,1 Prozent mit Evet (Ja). Damit liegt die Zustimmung für die Verfassungsreform in Deutschland höher als in der Türkei selbst (51,4 Prozent). Dabei lag die Wahlbeteiligung höher als bei der letzten Parlamentswahl 2015: Damals gaben 40,79 Prozent der 1,4 Millionen Wahlberechtigten Türk*innen in der Bundesrepublik ihre Stimme ab, diesmal waren es 48,7 Prozent. Somit haben nicht über 60 Prozent der „Almancılar“, wie in Deutschland lebenden Türk*innen in der Türkei genannt werden, für Erdoğans Verfassung gestimmt – sondern über 60 Prozent derer, die wählen gegangen sind.
„Bei knapp drei Millionen Türkeistämmigen machen die knapp ein Sechstel aus. Aber das Sechstel ist halt laut“, sagt Ahmet R. Dener, Türkei-Coach für Unternehmer. Wegen eines Hayır-Videos musste er kurz vor dem Referendum aus der Türkei wieder nach Deutschland übersiedeln.
Die Vorsitzende der Grünen in Essen, Gönül Eğlence, findet vor allem die Rekordzahl von 76 Prozent Evet-Befürwortern in ihrer Stadt „erschütternd“. Ihre Erklärung? „Die strukturellen Probleme des Ruhrgebiets sind bekannt. Hier fühlen sich viele Menschen abgehängt – auch unter den Nichtmigranten. Essen etwa gilt als Hochburg der AfD.“
Auch Caner Aver, Mitarbeiter des Essener Instituts für Türkeistudien, ist überzeugt, dass vor allem strukturellen Ursachen hinter dem Wahlverhalten der Almancılar stehen. „Gut organisiert“, nennt er diplomatisch die lokale Erdoğan-Partei AKP. Eğlence wird deutlicher: „Warum organisierte die AKP ihre Auftritte ausgerechnet in NRW und insbesondere im Ruhrgebiet? Vermutlich steckt dahinter eine gut organisierte Struktur, die es nun ausfindig zu machen gilt.“
Diskussionen über die Integrationsfähigkeit sind falsch
Aver fügt hinzu, viele Wahlentscheidungen seien aus einer „emotionalen Haltung“ heraus getroffen worden: „Einerseits wegen Erdoğan, der Stolz und eine emotionale Heimat bietet, andererseits weil mit ihm eine starke Führung in unsicheren Zeiten wählbar schien – ohne sich über die politischen und wirtschaftlichen Folgen informieren zu müssen.“
Eine Erklärung auf 140 Zeichen bietet Ekrem Şenol, Gründer und Chefredakteur des Onlinemagazins Migazin. Er twitterte am Sonntagabend: „Wie viel Anteil haben BRD & NL an diesem Wahlergebnis? Viele Nein-Wähler haben aus Trotz über die penetrante Einmischung ‚Ja‘ gewählt.“ Eine Erkenntnis, die die AKP-Wahlkampfzentrale zur Mobilisierung nutzte, etwa mit einem Video, in dem ein Herr um die 40 erklärt, dass „er eigentlich für ‚Hayır‘ gestimmt hätte, aber wegen der Deutschen nun ‚Evet‘ stimmt.“ Wer diese „Deutschen“ sind – die Medien, die Politiker, Frau Krause aus dem 5. Stock – erfährt man in dem Spot leider nicht.
Trotzwähler, Wutwähler, Schönredner – die AKP-Befürworter*innen könnte man in viele der Kategorien packen, aber in die Kategorie „Nicht integriert“ eher nicht, findet Devrimsel Deniz Nergiz, Soziologin aus Berlin. Trotz der Mobilisierung im Vorfeld des Referendums seien besonders die Diskussionen über die Integrationsfähigkeit der hiesigen Erdoğan-Unterstützer*innen grundlegend falsch. Ungeachtet dessen, dass diese den eklatanten Demokratieabbau nicht am eigenen Leib erfahren würden, seien sie – auch als Steuerzahler – hier verhaftet.
„Engländer, die für den Brexit, oder Amerikaner, die für Trump gestimmt haben, werden kaum so durchleuchtet“, findet Nergiz. Trotz allem müsse man den hiesigen Deutschtürk*innen abverlangen können, sich auch an den demokratischen Strukturen in Deutschland zu beteiligen. „Wenn die Jugend so politisiert ist, ist das erst einmal ein gutes Zeichen. Wir müssen nur schauen, dass wir diese Energie auch in die hiesigen politischen Strukturen kanalisieren.“
17 Apr 2017
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