taz.de -- Türkische Journalistin auf der Buchmesse: Flucht und Auftrag

Die türkische Journalistin Aslı Erdoğan saß virtuell auf dem Blauen Sofa. Sie erzählte dort von der kollektiven Aufgabe des Schreibens.
Bild: Schreibt unter härtesten Bedingungen: Asli Erdogan

Leipzig taz | Die Wolken reißen auf über der großen Glashalle. Die Sonne flutet für einen Moment den Raum über dem Blauen Sofa.

Auch in Istanbul scheint die Sonne. Hinter den roten Haaren von [1][Aslı Erdoğan] sieht man den blauen Himmel über dem Bosporus. Die türkische Schriftstellerin ist aus dem Istanbuler Studio des ZDF zugeschaltet. Auf der Leipziger Buchmesse wird Erdoğans Essaysammlung vorgestellt. In ihrem Text „Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch“, der auch der Sammlung den Namen gab, schreibt sie über „Worte, zerschossen und verschlossen von Hass und Machtgeilheit“. Oliver Kontny, einer der Übersetzer des Bandes, liest Teile daraus vor.

Erdoğan durfte nicht nach Leipzig reisen, auch ihre Teilnahme an einem Festival in Norwegen und einer Preisverleihung in Österreich musste sie absagen. Vergangene Woche hat ihr Prozess begonnen. Ihr droht lebenslange Haft wegen „Terrorpropaganda“, weil sie im Beirat der kurdisch-türkischen Zeitung Özgür Gündem saß. „Ich war Schriftstellerin“, sagt sie, „im Beirat zu sitzen war nur eine symbolische Mitarbeit.“

Welchen Sinn hat Schreiben, wenn [2][im Südosten der Türkei] ein brutaler Krieg geführt wird, wenn 150 [3][Journalisten], Autoren und Verleger, Tausende Richter, Professoren und Menschen aus allen Lebensbereichen in Haft sitzen, mit absurden Vorwürfen konfrontiert? „Man kann nicht schreiben, ohne sich seine Hand zu verbrennen“, sagt Erdoğan. „Aber der Mensch sucht seine Hoffnung in seinen eigenen Worten. Wenn ich das Schreiben aufgeben würde, würde ich alles verlieren. Den Luxus gibt es nicht, das Schreiben aufgeben zu können.“

Schreiben, um das System zu überwinden

Schreiben ist in der heutigen Türkei aber keine individuelle Frage, macht Erdoğan sofort klar. Sie glaubt, dass viele dieses gewalttätige Regime hinter sich lassen wollen. „Wir wissen noch nicht, wie“, aber das Schreiben sei auch ein Weg, sich darüber zu verständigen.

In Bezug auf [4][das Referendum] ist Erdoğan skeptisch. Sie erwartet eine Mehrheit für die Verfassungsreform, dem großen Projekt von Präsident Erdoğan. „Es scheint, dass alles danach noch schwieriger werden könnte“, sagt Erdoğan.

Es wird weiter geschrieben in der Türkei, auch wenn jene, die am falschen Ort das Falsche sagen, jede Nacht Angst haben müssen, dass die Polizei vor der Tür steht, wie Aslı Erdoğan berichtet. Unter diktatorischen Verhältnissen ist Schreiben Flucht und Auftrag zugleich.

23 Mar 2017

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AUTOREN

Ulrich Gutmair

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