taz.de -- Grünen-Kandidaten für den Bundestag: Darf die das?

Bettina Jarasch will als Spitzenkandidatin der Berliner Grünen in den Bundestag. Ausgerechnet Jarasch, die bisher ihren Platz in der Landespolitik sah.
Bild: Wird sie am Ende gut lachen haben? Bettina Jarasch will für die Berliner Grünen in den Bundestag

So viel Mehrkampf war lange nicht bei den Berliner Grünen: Nach 15 Jahren mit Renate Künast als Nummer eins für die Bundestagswahl streiten sich jetzt zwei Frauen um die Spitzenkandidatur, Bettina Jarasch und Lisa Paus. Dahinter bewerben sich sogar drei Männer um Platz 2. Unumstritten ist allein Künast, die dieses Mal für Platz 3 antritt, dem vermutlich letzten aussichtsreichen.

Das ist die Gemengelage, bevor die Grünen am Samstag ihre Bundestagskandidatenliste aufstellen. Das Besondere: Jarasch, die langjährige Landesparteivorsitzende, war noch Mitte September Teil des vierköpfigen Spitzenteams bei der Berlin-Wahl.

Vierte Reihe, der Randplatz zur Linksfraktion hin. Es ist erst die achte Plenarsitzung für Jarasch im Landesparlament, als das Abgeordnetenhaus am Donnerstag zusammensitzt. Geht es nach Jarasch, werden hier nur noch genau sechs folgen, bis am 24. September die Bundestagswahl ansteht.

Das wirft zwangsläufig Fragen auf. Wieso erst für die Landesebene kandidieren und im Wahlkampf ankündigen, mit ganzer Kraft für Berlin streiten zu wollen, um dann bei der nächsten Gelegenheit diese Landesebene zu verlassen, kaum ein Jahr nach der Abgeordnetenhauswahl? Hätte sie sich das nicht vorher überlegen können? Ist das nicht sogar eine Irreführen der Wähler?

Jarasch sieht keinen Widerspruch

Nicht, dass Jarasch die Erste wäre, die aus dem Abgeordnetenhaus in den Bundestag wechselt. Das ist durchaus normal, und zwar bei allen Parteien. Es entspricht ja auch dem Lianen-Prinzip im normalen Berufsleben: erst kündigen, wenn man den neuen Job in der Tasche hat. Auch Jaraschs Gegenkandidatin Paus war Landesparlamentarierin, bevor sie 2009 in den Bundestag kam.

Genauso wie Özcan Mutlu, der 2013 auf die Bundesebene wechselte und am Samstag für Platz zwei kandidiert. Doch keiner trat noch so kurz zuvor und so prominent auf Landesebene an. Stefan Gelbhaar, auch er ein Ex-Landesvorsitzender, der Mutlu Platz 2 streitig machen will, kandidierte ebenfalls noch im Herbst für das Abgeordnetenhaus, gehörte dem Parlament damals aber auch schon fünf Jahre an.

Jarasch sieht in ihrem engagierten Wahlkampf für das Abgeordnetenhaus gegenüber der taz keinen Widerspruch zu ihren neuen Ambitionen: „Wo immer ich bin, setze ich grüne Inhalte um.“ Sie fordert den Platz auch nicht, sie spricht vielmehr von einem Angebot. „Ich habe als Landesvorsitzende den Laden sechs Jahre geführt und auch zum Erfolg geführt“, sagte sie in dieser Woche, „und ich biete der Partei an, dass ich das auch im Bundestagswahlkampf tue.“

Im Oktober 2015 hatten die Grünen das vierköpfige Spitzenteam aus Jarasch, ihrem Co-Landesvorsitzenden Daniel Wesener und den beiden Fraktionschefinnen nominiert. Im März 2016 folgte die Wahl auf Platz 3 der Kandidatenliste, hinter der Spitzenkandidatin Ramona Pop und Antje Kapek, mit 78 Prozent, dem besten Ergebnis aller vier Spitzenteam-Mitglieder.#

Wechselt sie, weil kein Spitzenamt abfiel?

Die Frage liegt nahe: Wechselt sie vielleicht nur die Ebene, weil für sie als Einzige aus dem Spitzenteam in der rot-rot-grünen Koalition kein Spitzenposten abfiel? Pop wurde Senatorin, Wesener parlamentarischer Geschäftsführer und Kapek führt weiter die Fraktion. Weit weist Jarasch das von sich. Sie habe auch bewusst nicht für den Fraktionsvorstand kandidiert. „Ich hinterlasse ein Feld, das gut bestellt ist“, sagt sie.

Einen konkreten Zeitpunkt für die Entscheidung zur Bundestagskandidatur nennt sie nicht, wohl aber den Auslöser: In dem Jahr nach der Nominierung des Spitzenteams Ende 2015 sei gesellschaftlich etwas gekippt, von der Diskussion um die Kölner Silvesternacht hin zur Trump-Wahl. Hier will Jarasch ansetzen, genau an jener Schnittstelle von Sozialpolitik, Religion und Integration, für die sie seit drei Jahren im Grünen-Bundesvorstand zuständig ist. Im Bundestag sieht sie den Ort, Dinge verändern zu können, bei denen sie im Landesparlament an rechtliche Grenzen stößt.

Ihre Gegenkandidatin mag Jaraschs schnellen Parlamentswechselwunsch nicht bewerten und will das auch nicht ansprechen, wenn sich am Samstag im Hotel Estrel jede von beiden zehn Minuten vorstellen darf. „Ich werbe für mich, Frau Jarasch wirbt für sich“, sagte Paus am Mittwoch der taz.

Ein paar Kampfkandidaturen

Das Estrel, jenes Neuköllner Großhotel mit seiner seit Jahren laufenden Doppelgänger-Show, hat schon zahlreiche Parteitage fast aller großen Parteien gesehen. Es muss ein so großer Tagungsort sein, denn die Landesliste wählt nicht eine festgelegte Zahl von Delegierten, sondern im Extremfall jedes einzelne aus der wachsenden Mitgliedschaft – im Estrel wird man am Samstag das 6.000-ste Mitglied begrüßen.

So wird es auch eine Frage sein, wer die meisten Unterstützer mobilisiert oder zumindest Leute, die sich mit einer guten Rede beeinflussen lassen. Da aber gibt es unberechenbare Überschneidungen mit den weiteren Kampfkandidaturen: Stimmt ein Anhänger von Platz-2-Bewerber Mutlu für Jarasch, votiert ein Gelbhaar-Befürworter für Paus? Lässt sich sonst manches anhand von Links- oder Realolastigkeit der jeweiligen Kreisverbände und ihrer Delegierten mutmaßen – hier ist die Lage weit offen.

Warum so kurz nach der Bewerbung fürs Landesparlament nun eine Bundestagskandidatur, diese Frage tauchte jüngst auch bei der CDU auf, die am Samstag parallel zu den Grünen, aber acht Kilometer entfernt in Adlershof ihre Landesliste aufstellen will. Thomas Heilmann war ihr Adressat, als er sich in Steglitz-Zehlendorf als Wahlkreiskandidat bewarb. Die CDUler scheint es nicht gestört zu haben – Heilmann bekam eine deutliche Mehrheit.

23 Mar 2017

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Stefan Alberti

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