taz.de -- Kolumne Draußen im Kino: Eine Therapie namens Berlinale
Thailändisch Bahn fahren, norwegisch älter werden, jamaikanische Musik hören: Unser Autor beim Streifzug über die Berlinale.
Während der Berlinale ist das Telefon auf lautlos gestellt. Leuten, die angerufen haben, schickt man eine SMS – ich bin auf der Berlinale, das heißt in Gedanken, und möchte nicht gestört werden. Die Berlinale ist Therapie. Vor allem geht es darum, zehn Tage ruhig im dunklen Kino zu sitzen, zwischen den Filmen hin und her zu rennen und ab und zu zu schreiben.
Als freier Autor und Alleinwohner möchte man die Regelmäßigkeit auskosten, die sie für zehn Tage dem Leben gibt. Oft gelingt das auch. Weil man in seinem Innern aber ahnt, dass diese Ordnung bald wieder vorbei ist, irritieren Anrufe. Wahrscheinlich sieht man auch komisch aus, weil man sich kurz vor der Berlinale noch schnell selbst die Haare geschnitten hat.
Gegenüber dem Cinemaxx ist eine Bar. Seit Jahren schon, so mein Eindruck, spielen sie immer die gleiche Bob-Marley-CD, eher leise. Zwei sehr gut gekleidete Männer gehen an mir vorbei. Vermutlich sind sie vom Dubai Film Festival. Einer drückt mir wortlos, ohne mich anzugucken, eine leere Colaflasche in die Hand.
Später warten wir im Kino auf den Beginn der Pressevorführung. Hinter mir unterhalten sich zwei Frauen. Nach einer Weile fällt mir auf, dass die eine ständig „like“ sagt. Genervt davon, beginne ich mitzuzählen. Tatsächlich ist jedes fünfte Wort, das sie sagt, „like“.
Dann beginnt der thailändische Dokumentarfilm „Railway Sleepers“ von Sompot Chidgasornpongse. Bei dem Film konnte man nichts falsch machen: Ich mag Thailand und die thailändische Sprache und fand bislang jeden der viel zu wenigen thailändischen Filme, die ich gesehen habe, gut. Außerdem ist Bahnfahren sehr angenehm.
„Railway Sleepers“ nimmt den Zuschauer mit auf eine Bahnfahrt, die vom Norden Thailands in den Süden führt. 1893 wurde die erste Bahnlinie in Thailand als Zeichen des Fortschritts und Wohlstands vom König eröffnet. Die Kamera schaut wie ein Fahrgast auf Reisfelder, die vor dem Fenster vorbeiziehen, auf Passagiere in den unterschiedlichen Klassen; Kinder, auf deren T-Shirts „English Program Chiang Mai“ steht.
Sie singen das Lied der „Grüner-Tee-Raupe“. Reiseproviant und astrologische Hefte werden verkauft. Ein Mann raucht verstohlen, es ist verboten. Auf den Feldern brennen Feuer. Bewaffnete Soldaten. Mönche. Ein Jahrmarkt zieht vorbei. In den besseren Klassen sitzen Touristen. Ein Mädchen spielt mit dem Zauberwürfel. Gen Süden gibt es immer mehr verschleierte Frauen, die manchmal unglaublich schön lächeln. Das Rattern der Räder wiegt einen in den Schlaf. Nach dem Film fühlt man sich erholt.
Später der norwegische Tagebuchfilm „Balcony“ von Ole Giæver, der wie ein paar andere Filme, die ich guckte („Wilde Maus“ und „Trainspotting 2“) von Männerproblemen wie dem Älterwerden handelt. Der Held von „Balcony“, der introvertierte Filmemacher also, ist Ende dreißig und lebt in Oslo. Alles ist super, möchte man meinen: Er sieht gut aus, ist gesund, hat zwei kleine Kinder, eine Frau und keine Geldsorgen, aber den Eindruck, neben dem wirklichen Leben zu stehen.
Die Kindheit kommt in alten Videoaufnahmen vorbei. Szenen vom gelungenen Familienleben mit Tanz um den Weihnachtsbaum. Die Frau wie üblich als Instanz der Vernunft. Reflexionen über das Vergehen der Zeit und das Ende der Menschheit. Schreckensbilder aus dem Internet. Da und dort auch lustige, tolle Szenen, und es wäre ja auch Quatsch zu meinen, dass nur prekäre Leute seelische Probleme haben dürfen. Die Super-8-Tagebuchfilme von Jonas Mekas oder Jan Peters hatten mir besser gefallen.
14 Feb 2017
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