taz.de -- Fahrradverkehr in Berlin: Auf der richtigen Spur
Bordsteine, Blumenkübel, Plastikschwellen – um die Welt für Radfahrer sicherer zu machen, gibt es viele Ideen. Was passt in Berlin?
Mitten auf der Straße steht eine Reihe Plüschtiere, gerade hintereinander und genau auf dem weißen Streifen, der die Radspur hier auf der Leipziger Straße von der Autofahrbahn abgrenzt. Wobei das Kinderspielzeug genau das Gegenteil von Abgrenzung, sprich vermeintlicher Sicherheit, symbolisieren soll: Die erst vor Kurzem neu gestaltete Radspur vor dem Einkaufszentrum Mall of Berlin gilt bei vielen Radfahrern als extrem gefährlich.
So werde die neue Spur regelmäßig von Lastwagen zugeparkt. „Und sie ist mit einem Meter viel zu schmal und die Straße stark befahren“, wie Heinrich Strößenreuther vom „Volksentscheid Fahrrad“ sagt. Die Initiative hatte die Kuscheltiershow kurz vor Weihnachten für ein paar Minuten aufgebaut. Sie will damit darauf hinweisen, dass kaum jemand sein Kind auf diesen Radstreifen fahren lassen würde.
Laut Koalitionsvertrag soll künftig an Hauptverkehrsstraßen wie der Leipziger Straße ein „im Regelfall mindestens zwei Meter breiter Radstreifen“ errichtet werden. Dafür müsste die bisher in beiden Richtung zweispurige Fahrbahn für Autos wohl um eine Spur reduziert werden. Was aber nicht nur hier zumindest technisch vergleichsweise einfach umzusetzen ist. Rot-Rot-Grün will aber noch viel mehr: „Aus Gründen der Mobilitätssicherheit“, so die Vereinbarung, „soll abschnittsweise eine physische Trennung des Radverkehrs sowohl vom Auto- als auch vom Fußverkehr erfolgen.“ Und da wird es kompliziert.
Die Forderung wird zwar sowohl von der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ – die das Thema mit ihrer Unterschriftensammlung vergangenen Sommer erst auf die politische Agenda gesetzt hat – als auch vom Berliner Landesverband des ADFC unterstützt. Für die etwas konservativeren Radlobbyisten des ADFC stellt sie allerdings einen tiefen Bruch dar: Diese hatten sich in den letzten Jahren stets für Radspuren auf der Fahrbahn eingesetzt. Dort seien Radler für Autofahrer besser als Verkehrsteilnehmer zu erkennen, so das Hauptargument.
Auf der Bundeshauptversammlung des Verbands im November 2016 wurde dieses Mantra relativiert. Nun sollen auch in der Praxis in Berlin die gefühlte Sicherheit und die Anforderungen von ungeübten Radlern mehr bei der Planung der Radwegstruktur berücksichtigt werden. Aber wie?
„Nicht nach Schema F, sondern situationsabhängig“ sollten Radwege und -streifen auch räumlich abgegrenzt werden, betont der Sprecher des Berliner ADFC, Nikolas Linck. Dafür gebe es viele Möglichkeiten, etwa durch Bordsteine, wie sie in Kopenhagen, weltweit als vorbildliche Fahrradstadt bekannt, verwendet werden. Allerdings könnten diese Wege in Notfällen nicht so einfach verlassen werden. „Nicht alle Radfahrenden fühlen sich deshalb mit dieser Lösung sicher“, so Linck.
Schnell sichtbare Lösungen
Flexible Pfosten wären eine weitere Möglichkeit; würden allerdings nicht so schön aussehen. Bauliche Barrieren, etwa Blumenkübel, wären attraktiver, bräuchten aber mehr Platz. Überfahrbare Plastikschwellen wären einfach und raumsparend anzubringen, „bergen aber die Gefahr, dass Autofahrer sie ignorieren“, so Linck. Auch würden sie bisher in Deutschland nicht eingesetzt; sie müssten also erst einmal erprobt werden.
Der Initiative „Volksentscheid Fahrrad“ ist hingegen eine sichtbar schnelle Veränderung der Radler-Situation wichtig. An der Leipziger Straße zum Beispiel seien 15 Zentimeter hohe, für Autos unüberfahrbare Längsbarrieren aus Beton schnell aufzubauen, sagte Heinrich Strößenreuther der taz. Getestet worden sei diese Möglichkeit auch bereits. Und auf einer zwei Meter breiten Radspur könne man im Notfall auch ausweichen. Generell sollten die Parkstreifen für Autos und Radstreifen vertauscht werden: So dass die Autos entlang der Fahrbahn parken und so die Radler auch physisch vor dem fahrenden Verkehr schützen. Auch dies wäre schnell und billig machbar. Der Kritik, dass Radler durch unvorsichtig geöffnete Beifahrertüren gefährdet werden, hält Strößenreuther entgegen: „Die meisten Autos sind sowieso nur mit einer Person besetzt. Zudem orientieren sich Radler am rechten Rand ihrer Spur.“
Selbst einige zuletzt hoch gelobte Radspuren müssten künftig nach den Vorgaben des rot-rot-grünen Koalitionsvertrags überarbeitet werden. Etwa der Kreisverkehr am Kreuzberger Moritzplatz. Die dort erst im Sommer 2015 angelegte getrennte Doppelspur für Radler, die im Kreisverkehr bleiben und solche, die abbiegen wollen, sei zwar „zehn Mal besser als die einfache Radspur zuvor“, so Strößenreuther. Allerdings müsste die farbliche Markierung des Radstreifens durch eine Betonbake ergänzt werden. Denn, so fragt Strößenreuther rhetorisch: „Würden Sie ihr Kind dort durchfahren lassen? Eben!“
Hinweis: Der Termin der Bundeshauptversammlung des ADFC wurde korrigiert. In einer früheren Version hieß es, diese sei im Sommer gewesen.
3 Jan 2017
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Die Umweltverwaltung veröffentlicht das Gutachten zum Gesetzentwurf der Initiative Volksentscheid Fahrrad. Die taz hatte es Anfang Januar publik gemacht.
Die Initiative Volksentscheid Fahrrad wirft Andreas Geisel Trickserei vor: Anlass ist eine Prüfung der Verkehrsverwaltung, die die taz publik gemacht hat.
Laut einem bisher unveröffentlichtem Schreiben der Verkehrsverwaltung ist der Entwurf des Radgesetzes nicht umsetzbar. Die Initiative wäre entmachtet.
Eine 42-Jährige, die Ende Dezember überfahren wurde, ist an ihren Verletzungen gestorben. Am Freitag abend wird an sie in Malchow gedacht.
Erneut ist eine Berlinerin bei einem Radunfall mit einem Lastwagen tödlich verletzt worden. Es ist bereits die 16. Tote in diesem Jahr.
Der Senat missachte die Verfassung, sagt der „Volksentscheid Fahrrad“: Er lasse den Antrag auf ein Volksbegehren politisch motiviert verhungern
Offenbar plant Rot-Rot-Grün ein Mobilitätsgesetz mit großen Zugeständnissen an Radfahrer. Volksbegehren-Sprecher Strößenreuther freut sich.