taz.de -- Die Wahrheit: Brauchtum und Geselligkeit

Die früh erworbene Prägung durch rheinisch-westfälische Lebensart zeigt sich immer wieder hilfreich. Vor allem, wenn Malteser im Spiel ist.

Ich komme aus dem katholischen Rheinland-Westfalen und lebe in der Berliner Diaspora. Meine Großmutter war aus Gladbeck und hatte dreizehn Geschwister; als Zweitälteste schmiss sie nach dem Tod ihrer Mutter den Laden, während ihre ältere Schwester es vorzog, sich nach Italien abzusetzen, und einen verarmten Conte heiratete. Schon bald kehrte sie zurück in die Heimat und flanierte seitdem – blutrote Lippen, grün lackierte Fingernägel – huldvoll grüßend durch Gladbeck, Ernst Ludwig Kirchner hätte seine Freude an ihr gehabt.

Omma dagegen verschlug es nach erfolgreicher Aufzucht ihrer Geschwister nach Köln, wo der zahlenmäßige Niedergang unserer Familie begann. Mit meinem Großvater produzierte sie ein einziges Kind, meine Mutter. Das ließ Omma mehr Zeit für mich und meine Unterweisung in wichtigen Disziplinen wie Brauchtum und Geselligkeit. Wir trainierten donnerstags in dem Frauenkegelclub, dessen Vorsitzende sie war. Dort lernte ich außer kegeln den verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol – „Da sin Vitamine drin!“ –, indem ich die Reste aus den Kölsch- und Schnapsgläsern verkümmelte.

Ich war zehn und hatte meinen ersten Vollrausch. Omma verabreichte mir kurzerhand ihr Allheilmittel „Klosterfrau Melissengeist“, was dazu führte, dass ich – nie war er so wertvoll wie heute – mit der Klosterfrau auch alles andere von mir gab.

Diese früh erworbene Prägung durch rheinisch-westfälische Lebensart zeigte sich wieder mal sehr hilfreich, als ich vor Kurzem anlässlich des runden Geburtstags eines seiner Schulkumpels mit einem Westfalen in sein Heimatdorf reiste. Seine Familie war, ähnlich der meiner Großmutter, ausufernd, der Stammbaum an der Küchenwand der Patriarchin bis ins Unendliche verzweigt. Beim Kaffee wurde mir bei der Aufzählung der Enkel- und Urenkel schwindelig; ich bin sicher, sollte seine Sippe sich in dem Tempo weitervermehren, werden ihre Mitglieder einander an den Händen fassend in zwei Jahren einmal um den Erdball reichen.

Dabei könnte es eng werden, denn am Abend erwiesen sich die Familien der hundertzwanzig Geburtstagsgäste als ähnlich fruchtbar und unübersichtlich. „Wer war nochmal der mit den weißen Haaren, mit dem ich die drei Malteser getrunken habe?“ – „Ewald.“ – „Ja, genau. Und dann war da noch der mit der Glatze und dem . . .“ – „Ewald.“ – „Nein, nicht der. Der andere.“ – „Ja, Ewald.“ – Wie sich herausstellte gab es zehn Ewalds, mehrere Franz’ und mindestens dreißig Personen, die denselben Nachnamen trugen, aber behaupteten, nicht miteinander verwandt zu sein, und wenn, dann höchstens über irgendeinen Cousin fünften Grades.

Nach dem achten Malteser nannte ich alle Männer Ewald, nach dem zehnten war ich überzeugt, mit allen Anwesenden verwandt zu sein. Als ich leicht angeschlagen mit einer meiner neuen Tanten oder Großcousinen eine rauchen ging, murmelte sie was von „Allheilmittel“ und zog grinsend eine Notration „Klosterfrau“ aus ihrer Tasche. Omma, die Legende lebt!

8 Dec 2016

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Frankenberg

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