taz.de -- Kommentar KanzlerInnenkandidatur: Zu viel der Hochachtung

Kann es wirklich niemand besser als Merkel? Warum die Konkurrenzparteien ihre Beißhemmung ihr gegenüber ablegen sollten.
Bild: Das sollte jetzt mal ein/e Andere/r machen

Merkel muss weg. Man will diesen Satz gar nicht mehr schreiben, sagen, kaum noch denken. Alles sträubt sich – selbst jetzt, da die Kanzlerin drauf und dran ist, Helmut Kohls ewigen Amtszeitrekord zu brechen und die Macht der CDU zu zementieren. Man traut sich nicht, Merkel „weg“ zu wünschen. Weil dieser Satz von den ganz Rechten besetzt wurde. Und das ist ein Problem.

Worum geht es in einer Demokratie? Immer auch um die Möglichkeit des Wechsels. Es muss ein legitimes Ziel der Oppositions- und Konkurrenzparteien sein können, die Führungsperson der Regierung abzulösen.

Es ist ganz normal, die Mängel einer Regierung aufzuzählen und daraus zu schließen: Das sollte jetzt mal jemand anderes machen. Und zwar dringend. Wie aber kann man das noch laut und deutlich sagen, wenn dieser Wunsch zu einer herumgebrüllten Hassparole von Rechts verkommen ist?

Schwierig, gewiss, aber nicht unmöglich. Die anderen Parteien – vor allem SPD und Grüne – müssten ihre Beißhemmung gegenüber der Kanzlerin ablegen. Es gibt bisher eine übertriebene Hochachtung, ja fast schon Heiligsprechung, nur weil Merkel ein paar Monate lang freundlicher zu Flüchtlingen war als in Europa üblich und freundlicher als von der CDU gewohnt. Das war schön und gut, aber deshalb muss man sie doch nicht ewig in eine Art Wattebausch hüllen.

Wagemutige Koalitionspartner

Vor allem aber müssen die Parteien, die wirklich einen Wechsel wollen, klar, sachlich und inhaltlich fundiert begründen, warum sie es besser könnten als Merkel und die Union. Warum es weder für den sozialen Frieden noch für den Klimaschutz reicht, höflich und stets besonnen aufzutreten wie die Kanzlerin. Warum es dafür mutige und entschlossene Maßnahmen braucht, die Merkel nie gewagt hat. Und ja – auch wagemutige Koalitionsoptionen wie Rot-Rot-Grün.

Erste Voraussetzung: Die Konkurrenten müssten selbst daran glauben, dass sie es besser können. Warum denn nicht? Merkel war weiß Gott nicht fehlerlos. Ob Irak-, Gesundheits- oder Atompolitik: Bei vielen Themen fuhr sie lange in die falsche Richtung.

Zweite Voraussetzung: Die anderen Parteien müssten einen echten Wechsel wirklich wollen. Und nicht im Hinterkopf schon daran denken, wer in der nächsten Merkel-Regierung welchen Posten abbekommen könnte. Sonst überlassen sie der AfD viel zu viele Wechsel-Wähler.

21 Nov 2016

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Lukas Wallraff

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