taz.de -- Die Wahrheit: Blutgierige Bestien
Bei der Schach-WM, die gerade in New York stattfindet, zerfetzt das Duell Carlsen gegen Karjakin die Nerven sämtlicher Beobachter.
Angeblich beschleunigt sich das Leben immer schneller, werden die Menschen täglich verrückter, ist die vormals so schön geordnete Welt aus den Fugen geraten. Während in der guten, alten Zeit das Dasein bequem und übersichtlich verlief, jagt jetzt ein lauter Event den anderen, muss es blitzen und krachen, um Aufmerksamkeit zu erregen.
Die Wahrheit sieht anders aus. Es ist spannend, wenn nichts passiert. Es ist aufregend, wenn nichts zu hören ist, nicht einmal das Knistern von Bonbonpapier – selbst Atmen wird als Ruhestörung bestraft, wenn das Geräusch den Nachbarn aufschreckt. Es ist purer Nervenkitzel, wenn nichts zu sehen ist als zwei Säugetiere, die sich an einem Tisch auf einem Podium stundenlang schweigend gegenübersitzen.
So nämlich geht es zu beim Kampf um die Schachweltmeisterschaft zwischen Titelverteidiger Magnus Carlsen aus Norwegen und Herausforderer Sergei Karjakin aus Russland. Nicht Pulverdampf und quietschende Bremsen, splitterndes Glas und einstürzende Häuser, spritzendes Blut, Schreie von Verletzten, Berge von Toten, Dramatik untermalt von pochender, ohrenbetäubend anschwellender Musik – sondern regungslose Stille peitscht hier die Nerven.
Draußen, auf den Straßen von New York, mag die Hast regieren – im Fulton Market Building, wo das Match ausgetragen wird, herrschen Ruhe und Friede. Nicht Hetze, sondern Geduld, nicht hektisches Rudern mit den Armen, sondern leises Harren und Warten sind hier am Platz – und Lauern.
Kochende Leidenschaft hinter unbewegten Gesichtern
Denn so sieht die Wahrheit auch aus: Hinter den unbewegten Gesichtern kocht Leidenschaft, brennt der Wunsch zu quälen, lodert der Wille zu vernichten. Schon für den US-amerikanischen Schachweltmeister von 1972 bis 1975 Robert „Bobby“ Fischer war es der höchste Genuss, das Ego seines Gegners zu brechen; Magnus Carlsen ist sein Wiedergänger, Sergei Karjakin will es werden.
Unsichtbar blitzt und kracht es in den Köpfen, jagt lautlos eine Überlegung die nächste, wird hektisch nach dem genialen Zug und entscheidenden Coup gesucht, mit dem die Stellung des Gegners aus den Fugen gerät. Ja: Hinter der Maske selbstvergessener Konzentration oder freudloser Gleichgültigkeit verbergen sich im Schach Gemeinheit und Hinterlist, übertroffen nur von Falschheit und Heimtücke, die aber nichts sind gegen die wütende blanke Mordlust; nicht zu vergessen die unmenschliche Freude am Versagen anderer, das charakterlose Auskosten der Überlegenheit über Schwächere, das Verweigern auch nur des kleinsten bisschens Empathie mit einem Gegner, der auf der Verliererstraße ist und Stück für Stück erbarmungslos auseinandergenommen wird, bis von ihm nur ein Häufchen Elend übrig ist, wenn er Glück hat.
Gerade Carlsen ist für seinen Siegeswillen um jeden Preis bekannt, dafür, dass er seine Gegner so lange strapaziert, bis sie nach sechs, sieben Stunden zermürbt von psychischer Gewalt tot vom Stuhl fallen. Carlsen ist ein Tier, eine Bestie, die blutgierig auf einen Fehler wartet und gnadenlos jede Beute reißt. Aber so sind sie alle. Auch Karjakin, der sich als Unschuldslamm gebärdet und deshalb noch schlimmer als alle anderen ist. So konnte er jeden Gegner schlachten, der sich ihm auf dem Weg zum tödlichen Duell mit Carlsen in den Weg stellte.
Verborgene Verbrechen in Kindergesichtern
Carlsen, mehr noch Karjakin, am meisten aber Carlsen, wenn nicht doch Karjakin – beide, Mitte zwanzig, sind Gewalttäter, hinter deren unschuldigen Kindergesichtern sich das Verbrechen verbirgt. Als Knaben haben sie mit dem Schach angefangen, und jeder sieht heute, was das Schach aus ihnen gemacht hat, die nicht wissen und ahnen konnten, dass sie mit dem ersten Zug ihres Lebens auf die schiefe Bahn geraten sind.
Mehr als nur erstaunlich, geradezu kriminell ist es deshalb, dass der Weltschachbund nach wie vor Kinder an das Schachbrett lässt, dass Unicef nichts unternimmt, um Heranwachsende auf die Gefahren des Schachspiels aufmerksam zumachen, dass die Politik untätig ist und keine Altersgrenze einführt, wonach Schach für Jugendliche unter 18 Jahren verboten ist!
Gewiss ist es zu begrüßen und hinzunehmen, dass Schach abseitigen Erwachsenen, Nerds und Stubenhockern die Möglichkeit gibt, einen Platz in der westlichen Gesellschaft zu finden, statt im Narrenhaus oder im Gefängnis ihr Dasein fristen zu müssen – ähnlich wie in der indischen Gesellschaft irre Yogis und Sadhus, die ihr Leben beispielsweise auf einem Bein am Straßenrand stehend zubringen, sozial akzeptiert sind. Nur sind Schachspieler eben noch viel verrückter.
22 Nov 2016
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