taz.de -- Fragwürdige Qualitätskontrollen bei Altenheimen: Gute Noten, schlechte Pflege

Trotz schlimmer Missstände bekommt ein Pflegeheim in Hedemünden die Note 1,6. Ronald Schminke (SPD) hält das Benotungssystem für Verbrauchertäuschung.
Bild: Gut versorgt? Die Benotung von Pflegeheimen ist völlig intransparent

BREMEN taz | Sechs Ermittlungsverfahren sind bei der Staatsanwaltschaft Göttingen gegen die Verantwortlichen der Betreibergesellschaft der Pflegeeinrichtung „Haus der Heimat“ in Hedemünden im Kreis Göttingen anhängig – dabei konnte sich das Haus noch bis Juli mit der vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) vergebenen Note 1,6 schmücken.

Ermittelt wird inzwischen wegen des Verdachts des Abrechnungsbetrugs, der Untreue und der fahrlässigen Körperverletzung, außerdem gegen eine Pflegekraft wegen des Vorwurfs der körperlichen Misshandlung. Das geht aus einer Antwort der niedersächsischen Landesregierung auf eine mündliche Anfrage der SPD-Fraktion von Ende Oktober hervor, die auf Initiative ihres Abgeordneten Ronald Schminke erfolgt ist.

Der hatte all diese Vorwürfe öffentlich geäußert – und war dafür von Bettina K., nach wie vor Geschäftsführerin des Pflegeheims, wegen Verleumdung angezeigt worden. Schminke hatte das Heim mit dem Norderneyer Altenheim „Inselfrieden“ verglichen: Geschäftsführerin war auch hier Bettina K. Auch im Fall Inselfrieden ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen des Verdachts auf fahrlässige Körperverletzung.

Nach K.’s Anzeige gegen Schminke hatte die Staatsanwaltschaft die Aufhebung seiner Immunität beantragt. Das wollte der sich nicht bieten lassen: K. versuche ihn auf diesem Wege einzuschüchtern und mundtot zu machen, sagte Schminke und bat den Ältestenrat des Landtags, dem Antrag der Staatsanwaltschaft nicht stattzugeben – mit Erfolg: Die rotgrüne Mehrheit im Ältestenrat sprach sich gegen die Aufhebung von Schminkes Immunität aus.

In einer Mitteilung seiner Fraktion heißt es dazu: „Schminke hat Mängel angeprangert, die spätestens jetzt auch durch die Landesregierung dokumentiert sind.“ Er habe „damit seine Pflicht als Abgeordneter wahrgenommen und sich zum Schutze des Lebens Pflegebedürftiger eingesetzt“. Die Missstände im „Haus der Heimat“ seien noch schlimmer als bisher öffentlich gemacht.

Gegen das Pflegeheim gab es schon 2015 Vorwürfe: Die Hygiene sei nicht in Ordnung, Bewohner sollen kein Taschengeld erhalten haben. Im Juli 2016 fanden die Behörden dann Bewohner im eigenen Kot vor, Wechselwäsche fehlte, Menschen waren wochenlang nicht geduscht worden.

Dabei war das Heim regelmäßig überprüft worden: Vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung, der bundesweit regelmäßig Pflegeheime prüft und seine Ergebnisse in Form von Benotungen veröffentlicht. Die MDK-Gesamtbenotung wird gern von Pflegeheimbetreibern zu Werbezwecken auf ihre Internetseiten gestellt, denn sie ist immer positiv: Sowohl dem „Haus Inselfrieden“, in dem ähnlich schlimme Zustände vorgefunden wurden wie in Hedemünden, als auch dem „Haus der Heimat“ erteilte der MDK Gesamtnoten von 1,1 und 1,6.

Als Sprecher für Verbraucherschutz in der SPD-Fraktion will Schminke sich jetzt für eine Änderung des Heim-Bewertungssystems einsetzen. Er bezeichnet die MDK-Noten als Verbrauchertäuschung und hat an den Landtag eine Anfrage gestellt, in der er wissen will: „Welchen Aussagewert hat eine Qualitätsprüfung, wenn trotz schwerwiegender Mängel Bestnoten vergeben werden?“ Das klingt nur auf den ersten Blick nach einer rhetorischen Frage, denn tatsächlich haben die MDK-Benotungen einen Aussagewert – der freilich für Menschen auf der Suche nach einem Pflegeheim völlig intransparent bleibt.

Benotet werden vier Kategorien. Obwohl die sich aus unterschiedlich vielen Einzelkomponenten zusammensetzen, werden diese Noten gleich stark gewichtet. Bekommt ein Heim also beispielsweise für bis zu 32 Kriterien im Bereich „Pflege und medizinische Versorgung“ eine schlechte Bewertung, kann die „ausgeglichen“ werden durch ein „sehr gut“ für nur maximal neun Kriterien im Bereich „soziale Betreuung und Alltagsgestaltung“.

Die aufgeschlüsselten Bewertungen sind überdies schwer zu finden. Je nach Krankenkasse heißen die entsprechenden Internetportale „Gesundheitsnavi“, „Pflegefinder“, „Pflegekompass“ oder „Pflegelotse“. Bleibt also meist nur die zusammengefasste und fast immer gute Gesamtnote, die Verbraucher an exponierter Stelle auf den Internetseiten der Betreiber finden.

„Die Bewertungssystematik muss dringend verändert werden“, sagt Schminke. Oder verdrängt von den Berichten der bei den Sozialbehörden angesiedelten Heimaufsichten: Die sind nämlich ebenfalls für die Kontrolle von Pflegeeinrichtungen zuständig. Bloß: Ihre Ergebnisse werden nirgends veröffentlicht. „Die Behörden argumentieren immer mit Datenschutzgründen“, so Schminke. „Warum werden datenschutzrelevante Inhalte nicht einfach geschwärzt.“

Die Sozialbehörde des für das „Haus der Heimat“ zuständigen Landkreises Göttingen scheint offen zu sein für Schminkes Vorstoß: Die Berichte der Heimaufsicht seien „grundsätzlich ein geeignetes Mittel, die Öffentlichkeit transparent zu informieren“, sagt Landkreis-Sprecher Ulrich Lottmann. Das müsse jedoch „mit der Fachaufsicht abgestimmt sein“.

14 Nov 2016

AUTOREN

Simone Schnase

TAGS

Alten- und Pflegeheime
Demenz
Altern
Alten- und Pflegeheime
Alten- und Pflegeheime
Pflege
Alten- und Pflegeheime
Heimaufsicht
Banken
Alten- und Pflegeheime
Bremen
Pflege

ARTIKEL ZUM THEMA

Medikamentenvergabe im Pflegeheim: Sediert und ruhiggestellt

Ein Drittel der HeimbewohnerInnen erhält dauerhaft Antidepressiva. Das verstößt laut der AOK gegen medizinische Leitlinien.

Neues Gesetz für Pflegebedürftige: Verwirrung in der Pflege

Im neuen Jahr tritt das neue Pflegestärkungsgesetz in Kraft. Am schlechtesten über die Neuerungen informiert sind offenbar die Pflegebetroffenen selbst.

Pflegeskandal in Franken: Rechtsfreier Raum im Heim

Im unterfränkischen Gleusdorf wurden die Geschäftsführer einer Seniorenresidenz wegen Verdacht auf Totschlag in Haft genommen.

Abgeordneter prangert Missstände an: Mieses Heim stichelt zurück

Der SPD-Landtagsabgeordnete Schminke prangerte schlimme Zustände in einem niedersächsischen Pflegeheim an. Nun steht seine Immunität in Frage

Kontrolle der Pflegeheime: Mehr Arbeit für wenig Aufsicht

Die bremische Heimaufsicht ist personell schlecht aufgestellt. Durch das neue Wohn- und Betreuungsgesetz könnte sie entlastet werden, aber das ist nicht vorgesehen.

Ehemalige Berliner Bad Bank: Das Problemkind wird zum Streber

Nach ihrem Fast-Verkauf bringt sich die landeseigene Immobilienfirma Berlinovo mit einem 420-Millionen-Geschäft weiter in Richtung Gewinnzone.

Seniorenheim trickst bei Prüfung: „So werden Mängel vertuscht“

Das Seniorenheim Röweland hat einen neuen Träger – im Juli war es wegen Mängeln in der Pflege geschlossen worden. Negativ aufgefallen war es schon im März

Mühsame Suche nach Pflegeheimen: Eine Eins heißt nicht „Sehr gut“

Pflegeheim-Benotungen sind intransparent, Prüfberichte bleiben unveröffentlicht. Ein neuer „Wegweiser Pflege“ will Abhilfe schaffen.

Pflegemängel bleiben geheim: Keine Transparenz für die Alten

Obwohl es im Gesetz steht, werden Berichte der Heimaufsicht über Pflegeeinrichtungen nicht veröffentlicht. Das wird wohl so bleiben.