taz.de -- Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Gegen die Welt, aber mittendrin

Heiner Geißler disst die CSU und Angela Merkel zitiert Rio Reiser. Und zu Fencheltee und Wärmflasche gibt es YouTube-Videos der Buzzcocks.
Bild: Eine Art Wahlparty: Family 5 auf der Bühne des Berliner Badehaus Szimpla

Zwei Damen um die siebzig nähern sich zielstrebig dem DJ-Pult. Eine fragt: „Sagen Sie mal, warum tanzt denn hier keiner? Liegt es an den jungen Leuten oder daran, dass Sie so schlechte Musik spielen?“ Ich spiele gerade Family 5.

Es ist Samstagabend, und so langsam trudeln die taz-Genossen nach der Panterpreisverleihung in der Bar vom Deutschen Theater ein. Die beiden coolen Damen kriegen ihren Elvis und fangen an zu tanzen, halten aber nicht bis zum Ende durch, weil sie zu schnell eingestiegen sind.

Später wollen die Kids Ton Steine Scherben hören. Epiphanie: Hat außer mir noch keiner bemerkt, dass die Kanzlerin vor einem Jahr die Scherben zitiert hat? „Wir sind geboren, um frei zu sein / Wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein / Und wir werden es schaffen, wir werden es schaffen!“

Angefangen hat das Wochenende am Donnerstag mit den Buzzcocks. Das SO36 brummt, die ältesten Punks sehen so aus, als seien sie schon in Rente, falls es so was noch gibt. Pete Shelley hat einen dicken Bauch, wenig Haare und eine Halbglatze, singt aber wie ein junger Gott. Der halbe Saal singt mit, als die Buzzcocks „Harmony“ geben: „There’s a harmony in my head.“

Lob der Berliner Polizei

Die Buzzcocks gehen glücklich von der Bühne, die jungen und alten Punks mit einem Lächeln im Gesicht nach draußen. Da geht die Party weiter. Mitten auf der Straße eine Wanne. Es hat sich ein Auflauf gebildet, weil im Hauseingang gegenüber eine Band spielt. Die Beamten bleiben ganz entspannt, halten die Straße frei und lassen die Jungs noch ein Lied spielen. Lob der Berliner Punk-Polizei!

Morgens Lektüre des Interviews mit Heiner Geißler, der den bayerischen Opportunisten des gesunden Volksempfindens den Marsch bläst. Wo ist Herbert Wehner?

Hegels Organ

Abends stellt Margarete Stokowski im Roten Salon ihr Buch „Untenrum frei“ vor. Margarete zitiert Hegel. An der Stelle, an der er über die Verknüpfung des Hohen und des Niedrigen im Geist schreibt, erklärt Hegel, diese sei dieselbe, „welche an dem Lebendigen die Natur in der Verknüpfung des Organs seiner höchsten Vollendung, des Organs der Zeugung, und des Organs des Pissens naiv ausdrückt“.

Da fängt mein Geist an zu arbeiten. Die Buzzcocks haben sich nach einem Konzert der Sex Pistols gegründet. Dämlicher Name: Sex Pistols, Phallus als Waffe. Die Buzzcocks haben mehr Geist und Humor bewiesen und ein neues Wort für Vibrator erfunden. Bevor ich aber weiter über Hegels Organ und die Frage grübeln kann, zu welchem Teil des Geistes sich wohl der Vibrator verhalten würde, hätte Hegel ihn gekannt, klingelt das Telefon.

Das Kind hat Bauchschmerzen. Also schnell nach Hause. Zu Fencheltee und Wärmflasche gibt es YouTube-Clips der Buzzcocks.

Da ist kein Mitleid

Sonntag. Ich bin auf der Wahlparty meiner Partei, und die heißt Family 5. Ich stehe vor der Bühne im Badehaus Szimpla und denke an das letzte Konzert, 2003, als Family 5 drei Stunden lang den Magnet Club rockten. Wir hatten sie gleich für zwei Legislaturperioden gewählt, sie mussten ihr Set doppelt spielen.

Vor der Bühne fast nur Frauen und ein Rollstuhlfahrer. Peter Hein bringt wie immer kreativ die Tonlagen durcheinander und baut aktuelle Kommentare in seine Texte ein. Die Bläser blasen wie verrückt und ständig reißen den Gitarristen die Seiten. Im Telefon die neueste Hochrechnung, AfD 11,5 Prozent. Unser Vorsitzender findet einmal mehr die richtigen Worte: „Da ist kein Mitleid / Nur blanker Neid / Aus einer finsteren Vergangenheit.“

20 Sep 2016

AUTOREN

Ulrich Gutmair

TAGS

Schwerpunkt Wahlen in Berlin
Punk
Feminismus
Ausgehen und Rumstehen
Punk
CDU
Ausgehen und Rumstehen
Schwerpunkt Landtagswahlen
Fehlfarben
Festival

ARTIKEL ZUM THEMA

Kirchenschauen: St. Norbert sieht schmuddelig aus

Ein Schnitzelbrötchen und ein Sakralbau aus Beton können einen Sonntag retten. Unser Autor hat sich durchgeschlagen.

Punklegende Pete Shelley ist tot: Die glockenhelle Stimme des Punk

Einfach, schnell, roh und schön. Pete Shelley, der Gitarrist, Songwriter und Sänger der Punkband Buzzcocks, ist gestorben.

Nachruf auf Heiner Geißler: Kohls linke Hand

Er war ein früher Wegbereiter von Schwarz-Grün und brachte seiner Partei die sogenannte Frauenfrage näher. Heiner Geißler machte die CDU moderner.

Kolumne Ausgehen und Rumstehen: Keine Zeit für Dystopien

Während in einer Galerie über die Zukunft diskutiert wird, wird sie auf dem „3hd“-Festival live erprobt. Im Club sind dann alle in der Gegenwart vereint.

Berliner AfD-Politiker Kay Nerstheimer: Rechter am rechten Rand

Der zukünftige Berliner AfD-Abgeordnete Kay Nerstheimer ist sogar manchen Parteikollegen zu rechts. Parteiausschluss? Fehlanzeige!

Family 5 mit neuem Album auf Tour: Schlösser am Geländer

Peter Hein giftet und die Bläser blasen dazu: Die Düsseldorfer Soulpunks Family 5 gehen mit ihrem neuen Album „Was zählt“ auf Tournee.

Kolumne Ausgehen und Rumstehen: I’m a happy dreamer

Ob sie aus Marokko oder Dänemark sind, ist egal: Wo lächelnde Schamanen musizieren, haben coole alte Männer das Sagen.