taz.de -- Neuer Band mit Essays von Raul Hilberg: Was Deutsche nicht wissen wollten
Kaum einer untersuchte den Holocaust so genau wie der 2007 verstorbene Historiker. Jetzt gibt es einen neuen Band mit einer Essay-Auswahl.
Es gehört ja nach wie vor zu den Märchen der populären deutschen Geschichtsschreibung, dass die Generation der Achtundsechziger sich rauf und runter mit dem Holocaust beschäftigt habe, die Väter- und Großvätergeneration hinterfragend und einvernehmend. Das war leider nie wahr, und das ist auch nach wie vor zu schön als Selbstbild dieser Studenten und Studentinnen, als dass es Wahrhaftigkeit für sich beanspruchen könnte.
1954 veröffentlichte ein in Österreich geborener und in die USA vertriebener Jude ein Buch, das zum Standardwerk werden sollte: Raul Hilberg hatte 1954 (!), als in deutschen Familien noch der böse Russe, die fiesen Amis und dummen Engländer beklagt wurden, man seine Vertriebenenwunden leckte und ansonsten die Bundesrepublik zu einem Staat ausbaute, in dem christliche Normen bei Strafe des sozialen Tods zu gelten hatten, seine Dissertation fertig, sie hieß: „Die Vernichtung der europäischen Juden“.
Kein deutscher, weder ein BRD- noch ein DDR-Verlag wollte die quellensatte Arbeit publizieren, weder Droemer Knaur noch Rowohlt oder Beck. 1982 war es der Berliner Kleinverlag Olle & Wolter, der aus dieser inzwischen forschend erweiterten Arbeit ein die Tragödien der europäischen Judenvernichtung dokumentierendes Standardwerk formte, ehe es 1990 der Fischer Verlag unter Walter Pehle publizierte.
Ein Band großer Humanität
Hilberg unterbreitete ein Werk, das den „Holocaust“ (als Begriff erst seit Ausstrahlung einer US-Serie 1979 den Deutschen ein Begriff) nicht als Kapitalableitung, als Imperialismusstrategie oder die Judenverfolgung als tödliche Diskriminierung unter vielen analysierte.
Unter dem Titel „Anatomie des Holocaust“ (auch bei Fischer) sind kürzlich Essays und Erinnerungen des 2007 in den USA verstorbenen Hilberg erschienen. Ein Band großer Humanität, in seinen nun zusammengetragenen Texten ist viel von der Einsamkeit des Autors zu spüren, die er empfand, als den Westdeutschen nicht beizubringen war, sich mit seinen Befunden auseinanderzusetzen.
Man liest von Reisen durch das naziverheerte (Ost-)Europa – und wie er, Hilberg, immer auch Jude blieb, ein Mensch, der seiner kulturellen Zugehörigkeit wegen immer leicht, wenn auch freundlich abgetan wurde: Ach, schön, doch auch nur ein Betroffener.
Die Fäden, die Hilberg spann, nimmt inzwischen auch Timothy Snyder auf. Gut möglich, dass in vielen Jahren deutscherseits anerkannt wird, was im osteuropäischen Raum die eigenen Opas und Uropas angerichtet haben.
7 Sep 2016
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