taz.de -- Vegan in Berlin: Metzger mit Ideen
Berlins vegane Szene ist längst ein Tourismusfaktor geworden. In Friedrichshain bietet das L’herbivore dem Kunden Seitanwürste und Sauerkrauthack.
Es blubbert im Kessel. Dampfschwaden steigen auf und verhüllen den Blick auf das, was da vor sich hin kocht: dicke, in Plastikfolie verpackte Würste, schon dem Aussehen nach ziemlich deftig. Ausgepackt und aufgeschnitten wird die „Kräuter-Bratscheibe in Balsamico-Olivenöl-Marinade“ daraus, ein Spezialangebot zur Grillsaison.
Würste, Bratscheibe, Grillsaison? Mit Schweinen, Kühen oder Lämmern hat das hier trotzdem alles nichts zu tun. Denn in dem an der Grenze zwischen Friedrichshain und Prenzlauer Berg gelegenen Laden L’herbivore ist alles vegan – von der Soße übers Gyros bis zum Käse auf dem Cheeseburger. Die Würste bestehen aus dem Weizeneiweißprodukt Seitan sowie Lupinenmehl, verknetet mit einem aus Kräutern, Gewürzen, Zwiebeln und Knoblauch hergestellten Sud, der je nach gewünschter Geschmacksrichtung unterschiedlich gewürzt wird.
Betrieben wird der im Januar dieses Jahres eröffnete Laden, eine Kombination aus Thekenverkauf und Bistro, von zwei jungen Männern, Jonny Theuerl und Erik Koschitza, die mit Schürze und Kochmütze eher nach Fleischermeistern als Rohkostliebhabern aussehen. Und das soll auch so sein: „Wir essen selbst am liebsten deftig, und das merkt man unserer Küche auch an“, sagt Theuerl. Zwar betonen die beiden, die Seitanproduktion sei eine „jahrhundertealte Tradition“, die nichts mit Ersatz zu tun habe, sondern für sich stehe. Dennoch ist es kein Wunder, dass über das L’herbivore schon als „Berlins ersten veganen Metzger“ berichtet wurde: Die Aufmachung erinnert unweigerlich an eine klassische Fleischtheke, auf der Karte stehen Gerichte wie Schaschlik oder Hackbällchen mit Sauerkraut.
Damit passt der Laden zur Entwicklung der veganen Szene: In Berlin, von der Süddeutschen Zeitung schon vor zwei Jahren als „das vegane Mekka Europas“ bezeichnet, müssen Menschen, die tierfrei leben wollen, auf nichts verzichten. Mandel-Nougat-Eis, Peperonipizza, Halloumisandwich, Sauerbraten, Blaubeerdonuts, Trekkingschuhe, Vibratoren, Schminkpinsel: All diese Produkte lassen sich in Berlin in tierfreier Ausführung finden, und die Liste ließe sich noch lange weiterführen.
„Wachsende Foodszene“
130 Restaurants und Cafés verzichten laut Vegetarierbund auf Fleisch auf ihrer Speisekarte. Ausschließlich veganes Essen gibt es laut der Seite des Tierrechtsbündnisses Berlin-Vegan in 64 Lokalitäten, darunter Straßenimbisse ebenso wie Gourmetrestaurants. In 352 gastronomischen Einrichtungen soll es der Seite zufolge zumindest auch vegane Speisen im Angebot geben.
Kein Wunder, dass das Stadtmarketing das Thema längst entdeckt hat – visitBerlin konstatiert der veganen Szene ein „rasantes Wachstum“. „Wir wissen von veganen Hotels und Restaurants, dass Menschen auch genau aus diesem Grund nach Berlin kommen“, sagt visitBerlin-Sprecher Christian Tänzler. Das sei zwar „zahlenmäßig keine überwältigende“ Zielgruppe, aber dennoch eine wichtige, denn die vegane Szene sei untereinander gut vernetzt.
„Dass sich Berlin in Sachen vegan zum Trendsetter entwickelt hat, ist eine sehr positive Entwicklung, die auch gut zum gesundheitsbewussten und auf Nachhaltigkeit orientierten Lebensgefühl dieser Stadt passt“, sagt Tänzler. Während Berlin früher kaum für kulinarische Innovationen bekannt gewesen sei, habe sich dies „mit einer wachsenden Foodszene“ in den letzten Jahren geändert.
Trendsetter, Innovation, Foodszene? Wem das zu abgehoben klingt, den zieht es vielleicht doch eher zu den Hackbällchen, die es bald auch über einen Onlineshop von L’herbivore geben soll, wenn die Crowdfundingkampagne dafür genug Geld zusammenbringt. Nach einer ordentlichen Portion Seitan fühlt man sich übrigens ähnlich wie nach einem Fleischgelage – von Hipsterrohkost keine Spur.
19 Aug 2016
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