taz.de -- Kommentar Rigaer Straße in Berlin: Rechtsbrecher in Uniform

Mit dem Auftauchen der Gerichtsvollzieherin endete der Einsatz um das Hausprojekt. Polizisten mussten lange einstecken, weil ihre Chefs Fehler machten.
Bild: Wochenlang harrten Polizisten vor dem Hausprojekt in der Rigaer Straße 94 aus

Das war nun wirklich ein Novum: [1][Da kommt eine Gerichtsvollzieherin zum besetzten Haus und lässt es räumen]. Allerdings nicht von aufmüpfigen Hausbesetzern mit Hang zur antiquierten Parole, sondern von einer anderen Spezies, die in den letzten Wochen ebenfalls leichte Anarcho-Attitüden bewies und das Haus rechtswidrig besetzt hielt: die Berliner Polizei.

Was am Donnerstagnachmittag in der heiß umkämpften und symbolisch übermäßig aufgeladenen Rigaer Straße 94 vor sich ging, schrumpfte die Berliner Polizeibehörde vor den Augen der Öffentlichkeit auf Kleinstmaß. Normalerweise kommen Gerichtsvollzieher, die Vollstrecker der Justiz, mit Hilfe der Polizei zu umkämpften Orten, um gesprochenes Recht herzustellen.

In diesem Fall war es anders: Die Polizei war selbst zum Teil der Auseinandersetzung geworden, zum Rechtsbrecher in Uniform. Das zumindest war das – vorläufige – Ergebnis einer gerichtlichen Klärung. Die Vorgeschichte: Zuvor hatte die Berliner Polizei einen Bereich des Hauses, das teils von antikapitalistischen Aktivisten bewohnt und genutzt wird – ohne Räumungstitel geräumt. Anschließend kam es zu Ausschreitungen und Krawallen.

Dass die Polizei also am Donnerstag nicht an der Seite der Gerichtsvollzieherin stehen konnte, sondern dass diese mehr oder weniger dafür sorgte, den Hausnutzern der Rigaer Straße 94 wieder Zugang zu ihrem von der Polizei verstellten Gebäude zu verschaffen, brachte den Kern des Konflikts auf den Punkt: Kaum war die Gerichtsvollzieherin da, zog die Polizei ab. [2][Dieser Umstand wird die Polizeibehörde und den Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) noch einiges kosten].

Erst durch die Polizeibesetzung der letzten Wochen konnte ein Fetisch um die Symbolik der „Rigaer94“ entstehen, der der Bedeutung des Hauses kaum entspricht. Das Haus steht mit seinen abgegriffenen Parolen vor allem für eine anachronistische Erzählung von Politik. Fakt ist aber: Weil ihre erklärten Gegner, immerhin staatliche Institutionen, unlauter und stümpferhaft vorgingen, konnten sich am Donnerstag vermummte Gestalten in Berlin-Friedrichshain in Siegerpose vor die Presse setzen – als seien sie die paramilitärische Volksarmee von Kolumbien. Diese Wiedergeburt eines vermeintlich autonomen Gestus, über den sich auch der Großteil der außerparlamentarischen Linken kaputt lacht, hat einen äußerst prominenten Geburtshelfer: Berlins Innensenator Frank Henkel.

Die Verunsicherung in der Berliner Polizeibehörde ist nun groß. Hunderte Beamte haben in den letzten Wochen saftig einstecken müssen dafür, dass ihre Vorgesetzten in einer solch delikaten politischen Angelegenheit so grundlegende handwerkliche Fehler machten. Sie wurden beschimpft, bespuckt und verletzt, weil ihre Führung sie in ein offenes Feld laufen ließ – ohne Flankenschutz und Rückendeckung. Das ist ein handwerklicher, rechtlicher, vor allem aber ein gravierender politischer Fehler, der nicht ohne Konsequenzen bleiben kann und wird.

15 Jul 2016

LINKS

[1] /!5323584/
[2] /Hauptstadt-CDU-und-Rigaer-Strasse/!5319281/

AUTOREN

Martin Kaul

TAGS

Rigaer Straße
Friedrichshain
Polizei
Rigaer Straße
Abgeordnetenhaus
Dallas
Rigaer Straße
Frank Henkel
Schwerpunkt Landtagswahlen
Rigaer Straße
Rigaer Straße

ARTIKEL ZUM THEMA

Kommentar Henkel und Rigaer Straße: Am Ende dem Feindbild erlegen

Henkel ist blass geblieben als Berliner Innensenator. Dank des Einsatzes in der Rigaer Straße wird er auch noch als Rechtsbrecher in Erinnerung bleiben.

Innenausschuss zur Rigaer Straße 94: Platzt die Henkel-Blase?

Innensenator Frank Henkel muss sich für die illegale Räumung rechtfertigen. Wichtige Fragen im Check – und Henkels Antworten.

Die Wahrheit: Robocop in Bombenstimmung

Seit den Schüssen von Dallas wird der Einsatz von Robotern gegen verdächtige Subjekte in der ganzen Welt mächtig diskutiert.

Bewohner über Rigaer94 in Berlin: „Provokationen rund um die Uhr“

Drei Wochen wurde das Berliner Hausprojekt Rigaer94 von der Polizei besetzt. Für die Mieter war es der totale Ausnahmezustand.

CDU-Wahlprogramm und Rigaer 94: Im falschen Film

CDU-Parteitag entscheidet am Freitag über verfilmtes Wahlprogramm, in dem Senator Henkel Berlin eine sichere Stadt nennt. Jusos fordern seinen Rücktritt.

Hauptstadt-CDU und Rigaer Straße: Herr Henkel und der Rechtsstaat

Berlins Innensenator Frank Henkel will für die CDU die bevorstehende Wahl in Berlin gewinnen. Jetzt steht er mächtig unter Druck.

Konflikt um Rigaer Straße in Berlin: Rechtsanwalt fühlt sich bedroht

Der Anwalt des Eigentümers kam nicht zum Prozess, da vor seinem Haus ein Auto brannte. Autonome bekennen sich zum Anschlag auf einen Polizeiwagen.

Polizeieinsatz in Berlin beendet: Rigaer Straße enträumt

Die Nutzer des Hausprojekts im Stadtteil Friedrichshain haben wieder Zugang zu den illegal geräumten Zimmern. Die Polizei hat ihren Einsatz beendet.