taz.de -- Nach Attentat auf Politikerin Jo Cox: Wahlkampf läuft wieder an
In Interviews und Zeitungsbeiträgen werben Brexit-Befürworter und -Gegner für ihre Haltung. Nach zwei neuen Umfragen gewinnen die Gegner an Rückhalt.
London rtr/dpa | Drei Tage nach dem tödlichen Attentat auf die Abgeordnete Jo Cox haben in Großbritannien Befürworter und Gegner eines Verbleibs in der EU ihren Wahlkampf wieder aufgenommen. Beide Seiten warben in Interviews und Beiträgen für die Sonntagszeitungen für ihre Standpunkte. Hauptthemen waren die Konsequenzen eines EU-Austritts für Wirtschaft und Einwanderung. Zuvor hatte das Land unter dem Schock der Attacke auf Cox innegehalten und die zuletzt erbittert geführte Brexit-Debatte unterbrochen.
Die zwei Lager haben nun bis zum Referendum am Donnerstag Zeit, um die Wähler für sich zu gewinnen. Umfragen zeigen insgesamt keinen klaren Trend. Zwei neue Erhebungen deuteten darauf hin, dass die Befürworter eines Verbleibs wieder etwas an Rückhalt gewinnen. Der konservative Premierminister David Cameron, der diese Gruppe anführt, sprach in einem Beitrag für den Sunday Telegraph von einer „existenziellen Entscheidung“ für das Land.
Die 41-jährige Labour-Abgeordnete Cox, die sich ebenfalls für die EU-Mitgliedschaft starkgemacht hatte, wurde am Donnerstag durch Schüsse und Messerstiche getötet. Der Angreifer rief dabei nach Zeugenaussagen: „Britain first!“ („Großbritannien zuerst“) Dies ist ein Slogan der Austritts-Befürworter, aber auch der Name einer nationalistischen Gruppe.
Der Londoner Ex-Bürgermeister und Brexit-Befürworter Boris Johnson hat sich dafür ausgesprochen, dass Premierminister David Cameron selbst im Fall eines Brexits im Amt bleibt. Dagegen könnten Verpflichtungen durch die EU-Mitgliedschaft „innerhalb weniger Tage“ aufgelöst werden, sollten sich die Briten für einen EU-Austritt entscheiden, [1][sagte Johnson der Tageszeitung The Sun].
„Das Wichtigste ist vor allem, dass David Cameron Premierminister bleibt, und ich bin mir sicher, dass er das wird“, sagte Johnson. Cameron müsse „sehr bald“ ein kraftvolles Signal aussenden, dass „wir der Partnerschaft und Freundschaft mit unseren Freunden verpflichtet bleiben“.
Dennoch ließ Johnson keinen Zweifel daran, dass ein Brexit sehr schnell zu Konsequenzen führen könne. Noch vor dem Start von Verhandlungen mit der EU könne die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs über Großbritannien beendet werden. Weitere Schritte seien, „die Mitgliedsbeiträge zurückzuholen“ und „die Kontrolle über die Grenzen zurückzuerlangen“.
19 Jun 2016
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