taz.de -- EMtaz: Gruppe F: Portugal – Island: Ice, Ice, Baby!
Wo liegt eigentlich dieses Island? Das fragte sich Cristiano Ronaldo noch vor der Partie. Dann ersangen sich isländische Fans einfach einen Punkt.
Die Startbedingungen: Wenn nach der EM-Vorrunde nur acht Teilnehmer ausscheiden, muss man Portugal wohl zum erweiterten Kreis der Favoriten zählen. Ihr Kader ist, wie immer, einigermaßen gut besetzt. Die Namen klingen ein bisschen nach bilingualer Prenzlauer-Berg-Kita (Nani, Pepe, Rafa, Cedric) und ein bisschen nach Geld, vielviel Geld (Cristiano Ronaldo). Anstatt wie gewohnt an dieser Stelle von Haargel, Sixpacks und engen Boxerslips zu schreiben, bleiben wir einfach mal sportlich: Cristiano Ronaldo verlor als 19-Jähriger 2004 zusammen mit dem großen Luis Figo das EM-Finale im eigenen Land. Danach war Ronaldo mit Portugal bei jeder EM dabei, diese ist seine vierte. Für Real Madrid erzielte er in 236 Pflichtspielen 260 Tore. Wie war noch mal der Name des Sohnes von Cristiano Ronaldo? Richtig: Cristiano Ronaldo.
Acht von zwölf Monaten Winter, ausgeprägter Vulkanismus und viel Eis. Wenn nicht gerade eine Aschewolke den europäischen Flugverkehr lahmlegt, gibt es in Island hauptsächlich Langeweile. Dann spielt der Isländer Handball, Fußball oder zieht nach Berlin-Neukölln. Haben sensationell die Niederländer aus der Quali gekegelt. Gelten dank taktisch-kollektiv vorgetragenem Konzeptfußball als Geheimtipp. Nur leider darf der größte isländische Spieler überhaupt heute die Bank wärmen: Eidur Gudjohnsen, 37, gewann mit Barcelona die Champions League und spielte außerdem recht erfolgreichen Fußball bei Chelsea FC. Ansonsten klingt die Aufstellung nach goscinnyeskem Humor: Gudmundson, Gunnarson, Sigurdsson. Letzterer spielte immerhin schon mal Bundesliga, aber der wichtigste Spieler ist dem Namen nach latürnich Kolbeinn Sigthorsson. Latürnich ist er das.
Das Vorurteil: Geheimtipp hin, Holland rausgeschmissen her: Die wandelnden Youtube-Highlight-Fabriken von Portugal wunderdribbeln den behähigen Insulanern Knoten in die Beine. Die versuchen sich mit zehn Mann als menschlicher Zementmischer. Doch vergeblich: Immerhin dürfen die Isländer nach der vulkanhohen Niederlage die Selfies mit Cristiano Ronaldo behalten. Anschließend stellen sie einen Asylantrag an der Cote d'Azur.
Das Spiel: Huch! Island hat tatsächlich so etwas wie eine funktionierende Fußballmannschaft. Und das bei gerade einmal 330.000 Einwohnern. Portugal verschläft die ersten Minuten. Nur leider kann Gylfi Sigurdsson die so entstandene Riesenchance in der dritten Minute nicht verwerten. Schade.
Das war es aber dann auch schon von den Isländersons: Portugal übernimmt. Der Rest der ersten Halbzeit fühlt sich an wie ein Trainigsspiel zwischen Angriff und Verteidigung. Portugal darf sich warmkombinieren für die K.-o.-Phase des Turniers. Nach mehreren vielversprechenden Flanken, einigen ansehnlichen Kopfbällen und Kombinationen verwandelt Nani in der 31. gelangweilt eine Passflanke von André Gomes zum 1:0. Ein bisschen freut er sich auch. Erstes EM-Tor und so. Danach Halbzeit. Mannschaften ab. Gähn.
Doch zum Glück gibt es da noch die zweite Halbzeit: Das fleischgewordene Wikinger-Klischee Bikir Bjarnasson (Körpermaße Wandschrank, Ikea-Modell Klops) brandschatzt im portugiesischen Strafraum. In der 50. Minute schienbeint er per Volleyabnahme eine Gudmundsson-Flanke in das portugiesische Tor. Und während die isländischen Fans auf der Tribüne Grog aus den Totenschädeln ihrer Feinde trinken, wirken die Portugiesen auf einmal wie eine F-Jugend aus Niederkleevetz, die auf einmal gegen eine zwei Jahre ältere Kreisauswahl antreten muss. Fies.
In der Schlussphase ist das Spiel plötzlich richtig spannend. Portugal hat in der letzten halben Stunde viele Standards, Ronaldo plustert sich ein, zwei Mal auf. Doch es nützt nichts: Island holt den Punkt gegen Portugal. Und irgendwo in Holland verspeist Bondscoach Danny Blind zufrieden eine Frikandel: „Seht ihr, ich hab es doch gesagt.“ Ergebnis: 1:1.
Der entscheidende Moment: Cristiano Ronaldo vergibt gleich zwei vielversprechende Freistöße in der Nachspielzeit. Die Frisur sitzt.
Der Spieler des Spiels: Siegtorschütze Bikir Bjarnasson. Wenn man etwas kritisieren kann, dann vielleicht seinen viel zu gewöhnlichen Torjubel. Da sind wir von Isländern [1][Besseres] gewohnt.
Die Pfeife des Spiels: Wie immer: der portugiesische Innenverteidiger Pepe. Liegt es nur an mir oder sieht man jedes mal, wenn man den Real-Verteidiger auf dem Platz sieht, grobe Unsportlichkeiten? In der 68. Minute wird Pepe von Bödvarsson gefoult. Erstaunlich: Irgendwie schafft es Pepe noch im Fallen an dem Isländer eine Beinschere anzusetzen. Wäre Pepe ein Kita-Kind aus dem Prenzlauer Berg, würde man antiautoritäre Erziehung vermuten.
Das Urteil: Say whaaaaaat? Nach dem zugegebenermaßen glücklichen Tor der Isländer haben vor allem die isländischen Fans das Spiel gewonnen. Laut den offiziellen Ticketverkäufen müssen sich rechnerisch acht Prozent der Inselbevölkerung derzeit in Frankreich aufhalten, um das Team zu unterstützen. Wäre auch gerne Island-Fan: die EMtaz.
14 Jun 2016
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Österreich ist auf der Suche nach sich selbst. Die Isländer spielen dagegen mal wieder saukompakt und stellen in der Nachspielzeit ein verdientes 2:1.
Island steht kurz vor einer weiteren Sensation. Erst ein Eigentor schmälert zwei Minuten vor Schluss die Chancen auf das Achtelfinale enorm.
Welke und Kahn nehmen den Fußballzirkus nicht allzu ernst. Das tut gut. Allerdings kann man auch über das Ziel hinausschießen.
Französische Drama-Queens: Griezmann und Payet buchten erst in der 90. Minute das Last-Minute-Ticket ins Achtelfinale.
Zwischen Schweizern und Rumänen geht es hin und her und her und hin. Es ist spannend, intensiv – aber am Ende bleibt es bei zwei Toren.
Die Slowakei meldet sich im Turnier zurück, weil Russland nicht begriffen hat, dass man Bälle besser flach nach vorne spielt. 2018 wird düster.
Der Portugiese Pepe kann gleichzeitig schwalben und treten. Nach einer Beinschere wurde er wüst beschimpft. Dabei müsste man ihm danken.
Austrias Kicker haben sich in der Weltrangliste von Platz 92 auf 10 hochgearbeitet. Jetzt will das Team auch noch die skeptischen Ösis überzeugen.
Hipster-Liebling Belgien wird auch bei dieser EM nichts gewinnen. Schuld sind eine alternde Abwehr und ein fehlendes Offensivkonzept. Schwach.
Mainstream-Geheimtipp Belgien hatte keine Chance: Abgezockte Fußball-Senioren aus Italien zeigen es clearasilgesichtigen Belgiern. Ein Traum.
Die Schweden spielen erst in der zweiten Halbzeit so richtig mit. Ibrahimovic erzwingt den 1:1-Ausgleich. Doch der Spieler des Spiels ist ein Ire.
Spanien spielt seinen Stiefel, zum Sieg reicht dennoch der Kopf. Die Glanzparaden von Torhüter Petr Čech halfen Tschechien da nicht.