taz.de -- Kommentar Tote Flüchtlinge im Meer: Wir Routinierten

Erneut sterben Hunderte auf dem Mittelmeer. Doch wir kommen damit besser klar als vor der „Flüchtlingskrise“. Es braucht nur ein bisschen Ignoranz.
Bild: Im April 2016 rettet ein Schiff von SOS Méditerranée 108 Flüchtlinge vor Lampedusa, sechs Tote werden geborgen

Mehr als 1.000 Menschen [1][starben diese Woche im zentralen Mittelmeer,] auf der Fluchtroute von Afrika nach Italien. Das sagt Flavio Di Giacomo von der Internationalen Organisation für Migration. Das UN-Flüchtlingshilfswerk spricht von mindestens 880 Todesopfern. Und ob die mindestens 117 Toten, die nach Angaben des Roten Halbmonds am Donnerstag an der Westküste Libyens angespült wurden, dazugerechnet werden müssen, ist unklar: Die Leichen waren bereits verwest.

Das sind die Fakten der Woche. Einer Woche. Die Zahlen stehen da, wir sehen Bilder von geborgenen Leichen, wir sehen einen Helfer der Organisation „Sea Watch“ mit einem toten Baby im Arm. Das alles ereignet sich quasi vor unserer Haustür, in unserem Ferienmeer.

Was tun wir damit? Unterziehen wir, im Versuch, rational zu bleiben, das System, in dem wir leben, einer kritischen Analyse? Halten wir kurz betroffen inne? Oder verdrängen wir die Toten in die Tiefen unserer Hirnwindungen? Und was machen diese Toten dann dort?

Wir haben jedenfalls Routine bekommen. Wir ahnen, dass die Toten auch etwas mit unserer eigenen Lebensweise zu tun haben – das scheint aber zu abstrakt und überfordernd. Aber wie abstrakt ist ein totes Baby in den Armen eines Mannes, der unser Nachbar sein könnte?

Wir wollen nicht böse, wollen nicht gleichgültig sein. Wir kaufen weiter Bio oder Vegan. Wir besuchen die ein oder andere kulturelle Veranstaltung, die von Geflüchteten aktiv mitgestaltet wird, wenn unsere vielfältigen Verpflichtungen das zulassen. Wir fragen uns: „Was kann ich als einzelner Mensch denn sonst schon ausrichten?!“ Wir versuchen, unser Gewissen zu beruhigen.

Wir sagen: Es ist doch nachvollziehbar, dass wir, würden wir uns jeden Tag mit dem gesamten Übel der Welt und unserer daraus resultierenden Ohnmacht gegenüber bestehenden Strukturen und ihren globalen Auswirkungen befassen, schon ganz bald sehr unglücklich wären.

Wir glauben: Ein gewisses Maß an Ignoranz ist notwendig. Um uns bei Kräften und vor allem bei Laune, bei der Lust am Leben zu halten. Aber wir ahnen: Es gibt Grenzen, bei deren Überschreitung es gefährlich wird. Für uns. Als Menschen.

3 Jun 2016

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Annika Glunz

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