taz.de -- Der Konflikt um Berg-Karabach: Eine Kulturministerin im Krieg
Der Konflikt um Berg-Karabach schwelt weiter. Narine Aghabaljan, Kulturministerin des Zwergstaates, glaubt dennoch an die Kraft von Kunst.
Stepanakert/Shushi/Jrakus taz | Es ist ein Sonntag, doch Narine Aghabaljan sitzt im Dienstwagen, in ihrer Tasche steckt ein Orden. Die 49-Jährige ist die Kulturministerin von Berg-Karabach mit seinen etwa 150.000 Einwohnern, ein Staat, der keiner ist – jedenfalls nicht international anerkannt. Eine vorwiegend von Armeniern bewohnte Enklave auf dem Gebiet von Aserbaidschan. So sieht es die armenische Regierung.
Eine von Armenien okkupierte Region. So sieht es die aserbaidschanische Regierung. Eine Region, in der immer wieder Schüsse fallen, seit vergangenem Freitag besonders heftig. Diese Eskalation liegt noch in der Zukunft, da macht sich Kulturministerin Narine Aghabaljan auf den Weg durch die Berge. Ihre Kurzhaarfrisur ist akkurat geschnitten. Aghabaljan wirkt ruhig.
In der Hauptstadt Stepanakert sitze sie als einzige Frau mit 30 Männern am Regierungstisch, erzählt sie. Während sich der Dienstwagen durch den letzten großen Flockenwirbel dieses Winters quält, wartet im Dorf Jrakus Melik Vardanjan auf den Gast. Vardanjan feiert heute seinen 85. Geburtstag. Der alte Dorflehrer ist berühmt. Der Jubilar hat jahrelang Holzpuppen gefertigt. Die mehr als dreißig Figuren stellen den Dorfalltag dar.
Daher hat Aghabaljan nicht nur einen Orden im Gepäck, sondern auch einen Plan. Sie will die Puppen in der Hauptstadt präsentieren, wo derzeit ein Museum gebaut wird. Es gibt allerdings ein Problem – der Alte will seine Puppen nicht rausrücken. „Es wird schwierig, ihn zu überreden“, sinniert Aghabaljan und blickt aus dem Fenster.
Wie in einem Garten Eden
„Hier werden die Menschen nie verhungern“, sagt Aghabaljan, wechselt das Thema und zählt die Obstsorten auf, die hier wachsen: Äpfel, Birnen, Pflaumen, Kornelkirschen, Walnuss, Haselnuss. Mit der Hand wischt sie die Scheibe frei: „Sehen Sie die Büsche? Das sind alles Brombeeren und Himbeeren.“ Dann zeigt sie auf Maulbeerplantagen, durch die Berg-Karabach, auf Deutsch: der „gebirgige schwarze Garten“, in der Sowjetunion berühmt war. Noch heute findet im Frühsommer ein Maulbeerfestival statt. „Sogar die Schweizer bewundern unsere Natur“, rühmt Aghabaljan. Seit drei Jahren planen Schweizer ein Öko-Dorf. Demnächst könnten die Bauarbeiten beginnen. Die Ministerin ist optimistisch.
Macht sie sich denn keine Sorgen, weil der Krieg mit Aserbaidschan weiter schwelt? „Berg-Karabach ist für mich der sicherste Ort der Welt“, entgegnet Aghabaljan. Wirklich? „War Paris denn gegen die Terroranschläge sicher?“, fragt sie zurück. Dann allerdings bekommt die Gewissheit Risse. „Hier so dicht an der Grenze verübt Aserbaidschan Sabotageakte“, fährt sie fort. Kurzzeitig ist ihre Stimmung gedrückt. Dann lässt sie stoppen. Themenwechsel. Sie will unbedingt die Asoch-Höhle zeigen, in der Steinzeitmenschen gelebt haben. Seit 15 Jahren forschen hier Archäologen aus Großbritannien, Irland, Spanien und den Niederlanden. „Mitten in Berg-Karabach!“, sagt Aghabaljan unbeirrt.
Endlich taucht das Dorf auf. Der Fahrer bremst. Augenblicke später baumelt der Orden an der Brust von Melik Vardanjan. Er ist nun „Verdienter Künstler der Republik Berg-Karabach“. Der Geehrte bittet zu Tisch. An seiner Seite nimmt Narine Aghabaljan Platz, dann setzen sich die Honoratioren, dann die Nachbarn und Verwandten. Die Gastgeber kennen schon die Vorlieben der Ministerin und servieren eingelegte Kräuter und Gemüse aus dem heimischen Garten. Es wird ein schöner Tag – mit einem Wermutstropfen. Die Puppen rückt der Alte nicht heraus. Nicht heute. Aghabaljan wird noch einmal anreisen müssen.
„Wir wollten Selbstbestimmung“
Auf dem Rückweg erinnert sie an die Zeit der Perestrojka und die Unabhängigkeitsbestrebungen in Berg-Karabach. „Wir wollten Selbstbestimmung.“ Ein wichtiges Medium war das Fernsehen. Zu Sowjetzeiten gab es hier nur aserbaidschanische und russischsprachige Sender, aber keinen armenischen. Deswegen kann sich Aghabaljan an den 1. Juni 1988 noch sehr genau erinnern.
Damals ging das erste eigene Programm mit den Worten auf Sendung: „Sie empfangen den öffentlichen Sender von Arzach!“ Es war Narine Aghabaljan, die das verkündete. Arzach – das ist die armenische Bezeichnung für die Region. Aghabaljan studierte an der Fakultät für armenische Sprache und Literatur in Stepanakert. Fortan berichtete sie über Massenproteste, Flucht und Pogrome.
Als der Krieg vorbei schien, wollte sie sich mit anderen Themen befassen, wollte neuen Perspektiven Raum geben, die in staatlich Medien bis dahin kaum vorkamen. 2005 gründete sie deswegen ihr eigenes Studio. Wenig später gibt sie auch die Wochenzeitung Arzach Info heraus. Wie kann sich in einer Konfliktregion die Zivilgesellschaft entwickeln? Das war eine ihrer Fragen. Jetzt hat sie sie auf ihrem Ministeriumstisch.
Kultur statt Militär
Die Journalistin Aghabaljan fiel in dem kleinen Staatsgebilde auf. Der Ministerpräsident versuchte mehrmals, sie ins Kabinett holen. 2012 ist es ihm gelungen, sie in das Kulturministerium zu holen. Aghabaljan wollte das Ressort, weil es auch für Jugendpolitik zuständig ist. Warum? Den jungen Menschen Kultur nahebringen, sei ihr Ziel, weg von der allgegenwärtigen Militarisierung.
Am nächsten Tag fährt Aghabaljan von Stepanakert die zehn Kilometer nach Shushi. Dort befindet sich in einem Gebäude, das zur Zarenzeit ein Gymnasium war, das Kulturministerium. Ist es eigentlich schwierig, dass Berg-Karabach nicht anerkannt ist? Sie schüttelt den Kopf. „Die Leute kennen hier gar nichts anderes mehr. Sie sind in einem Land geboren, das nicht anerkannt ist. Sie haben ihre Studienabschlüsse in einem Land erworben, das nicht anerkannt ist. Sie haben hier Jobs gefunden und Familien gegründet“, wiegelt die Ministerin ab.
Tatsächlich ist Berg-Karabach nahezu abgeriegelt. Alle Verbindungen zur Welt laufen über Armenien. Auch mit Zahlungsmitteln und Reisepässen wird Berg-Karabach von dort versorgt. Um die Isolation etwas aufzubrechen, will Aghabaljan mehr Studienplätze für Fremdsprachen schaffen.
Heimatgefühle stärken
Im September begeht Berg-Karabach den 25. Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Um das Heimatgefühl der jungen Generation zu stärken, will Aghabaljan einen Wettbewerb starten. „Was ist wertvoll in unserem Land?“, will sie wissen. „Und was läuft falsch?“ Die junge Leute sollen mit ihrem Handy Fotos und Videos machen.
Aghabaljan nippt am Tee, ihr Blick huscht über den Architekturentwurf für die neuen Konzerthalle in Stepanakert. Sie sieht zufrieden aus. Vielleicht bald auch eine Bühne für Montserrat Caballé, deren Bilder hier an den Wänden hängen? Zweimal gab die Opernsängerin Konzerte in Berg-Karabach. „Armenien und Arzach – eine Insel des Christentums“, heißt eines ihrer Alben bedeutungsschwer, wo die Diva auch auf Armenisch singt. Doch die Kulturministerin hat einen anderen Geschmack. Sie denkt eher an Sting und Peter Gabriel. „Toi, toi, toi!“, ruft sie. „Vielleicht klappt es?“
Ob sich Sting jemals nach Berg-Karabach verirren wird? In Stepanakert, wo mit etwa 50.000 Einwohnern ein Drittel der Bevölkerung wohnt, ist die Infrastruktur jedenfalls schon passabel. Hotels und Cafés gibt es an jeder Ecke. Und hier präsentiert Narine Aghabaljan den Entwurf für die Konzerthalle den Orchestermusikern. Der erste, der einen Blick hineinwirft, ist der Dirigent.
Ein Konzertsaal für 800 Zuhörer
Dann macht das Papier im Kammerorchester seine Runde. Es ist ein funktionaler Bau mit Kino und diversen anderen Hallen, der größte Saal soll 800 Zuschauer fassen. Mehr als 10 Million Euro wird alles kosten. Doch die Finanzierung ist schon gesichert, bekräftigt Aghabaljan, durch Spenden, vor allem von Auslandsarmeniern. Dafür war die Kulturministerin zwischen Moskau und Monaco unterwegs, um Klinken zu putzen. „Es ist besser, das Geld in Kultur zu investieren als in Waffen.“
Überall muss Aghabaljan in ihrem Job mit Männer verhandeln – in der Regierung, im Ausland, auf dem Dorf. Überall, nur nicht zu Hause. Dort warten am Abend drei Frauen auf sie – Mutter, Cousine und Schwiegertochter. Dann kommt auch ihr Sohn mit dem einjährigem Enkel nach Hause. Bald sitzt die ganze Familie am Tisch. „Es gibt viele Frauen, die ganz allein ihre Familien ernähren müssen“, hebt Anja, die Mutter von Narine Aghabaljan, an. Die 85-Jährige kann sich kaum noch bewegen, der Rollator steht griffbereit.
„Das ist die Folge des Krieges“, fährt Anja fort. „Die Männer sind alle tot.“ Sie hat in dem Konflikt mit Aserbaidschan ihren Mann verloren, ihre Tochter Narine ebenfalls. Kurz fährt sich die Alte mit einem Taschentuch über die Augen. Bald lächelt sie wieder. Ihr Urenkel steht vor ihr und versucht sich mit ersten Lauten bemerkbar zu machen. „Das ist die zweite Generation des unabhängigen Arzach!“ Stolz sagt das Narine Aghabaljan, nimmt ihren Enkel in den Arm und verpasst ihm einen dicken Kuss.
Wenig später flammen die Kämpfe wieder auf. Seit Freitagabend gibt es 64 Tote. Am Dienstag verkünden Aserbaidschan und Berg-Karabach eine Feuerpause. Ein Hoffnungsschimmer. Mehr nicht.
7 Apr 2016
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Der georgische Experte Paata Zakareishvili sieht in den jüngsten Gefechten zwischen Aserbaidschan und Armenien eine neue Stufe der Eskalation
Zwei Wochen hielten Bewaffnete eine Polizeistation besetzt, zwei Menschen starben. Nun gaben sie auf. Behörden melden 20 Festnahmen.
Nachdem es im April erneut zu Gefechten kam, wollen Armenien und Aserbaidschan nun eine Lösung finden. Im Juni werden die Konfliktparteien verhandeln.
Die armenische Regierung mobilisiert Freiwillige für einen militärischen Einsatz gegen Aserbaidschan. Der Konflikt könnte erneut eskalieren.
Tradition wird groß geschrieben in Armenien. Hier finden sich uralte Kirchen und ein weit zurückreichender Weinanbau.
Die Menschen in Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, stehen Schlange, um Blut zu spenden. Doch es gibt keine Spur von Kriegsbegeisterung.
Seit 100 Jahren bekämpfen sich christliche Armenier und ihre muslimischen Nachbarn. Moskau und Washington könnten darauf Einfluss nehmen.
Für viele Männer bietet Armenien keine Perspektive, sie gehen in Russland arbeiten. Zurück bleiben Frauen, Alte und Kinder. Ein Familienbesuch.