taz.de -- taz-Serie Ökonomie der Flucht: Die Nachfrage steigt und steigt
Nach wie vor gibt es immer neue Notunterkünfte für Geflüchtete. Das ist ein gutes Geschäft für die Ausstatter, auch dubiose Anbieter sind unterwegs.
Berlin taz | Vor wenigen Monaten verkaufte Medprodukt noch Erste-Hilfe-Artikel an Rettungsdienste, Feuerwehren und Ämter. Dann kamen die Geflüchteten und mit ihnen die Notwendigkeit, in kürzester Zeit Zelte, Turnhallen und leer stehende Gebäude zu Notunterkünften umzubauen. Die Firma erweiterte das Sortiment und kaufte tausende Decken, Feldbetten und Doppelstockbetten aus Stahl. Das 14-teilige Hygieneset „Notunterkunft“ mit Shampoo, Rasierer, Kamm und Zahnbürste gibt es auf der Homepage für knapp 16 Euro.
„Wir haben den Umsatz in den letzten Monaten verdoppelt“, sagt Medprodukt-Geschäftsführer Hartmut Kreutz. Er hat zwei zusätzliche Mitarbeiter eingestellt, die sich ausschließlich um die Flüchtlingsunterkünfte kümmern. Vorher hatte er acht. Die Käufer sind Landratsämter, Stadtverwaltungen und Landesministerien, die oft innerhalb von wenigen Tagen eine Infrastruktur für hunderte Menschen parat haben müssen.
„Vor allem im Sommer war es chaotisch“, sagt auch Werner Konietzny, Chef des Hygieneartikel-Händlers MD. „Die Behörden sind seit Monaten am Limit und froh um jede Aufgabe, die ihnen abgenommen wird.“
Ein Dutzend VerpackerInnen hat Konietzny zuletzt neu eingestellt. Auch er verkauft Hygieneartikel und Betten, in Deutschland, aber auch in den Nachbarländern. Um die 250 Euro kostet ein Doppelstockbett, häufig stattet er Turnhallen mit bis zu 150 Betten aus. Im Monat verkauft er etwa 1.000 Stück. „Bei Ikea gibt es Stockbetten für 140 Euro,“ sagt Konietzny. „Aber da schrauben zwei Leute 45 Minuten dran.“ Zeit, die bei so großen Bestellmengen niemand hat.
Schnelles Geld, schlechte Qualität
Das Lager von Medprodukt ist bald leer. Wenn die Nachfrage steigt, steigt der Preis – das erlebt auch Kreutz beim Einkauf. „Ein Hochbett kostet mittlerweile 15 Euro mehr“, sagt er. Er bezieht die Produkte von zertifizierten Firmen innerhalb der EU. Aber immer öfter kommen bei den Ausstattern auch dubiose Angebote herein, häufig von privaten E-Mail-Adressen.
Im Internet existieren die Firmen nicht oder erst seit wenigen Tagen. „Das sind Leute, die jetzt das große Geld wittern und schlechte Produkte anbieten“, so Konietzny. Noch kommen die zertifizierten Werke mit der Produktion nach. Kreutz und Konietzny fürchten aber, dass sich das bald ändert.
Doch nicht nur Zwischenhändler für Bedarfsgegenstände, auch Messebauer profitieren von den steigenden Zahl von Geflüchteten. „Zur richtigen Zeit am richtigen Ort“, so beschreibt es Josef Ebner, Verkaufsleiter bei Octanorm. Nach eigenen Angaben ist seine Firma Weltmarktführer in der Branche.
Das Unternehmen hat eine eigene Homepage für Notunterkünfte, auf der es unterschiedlichste Trennwandsysteme anbietet – auf Wunsch mit Montage und Zubehör. Dafür werden die mobilen Messewände mit einer Spezialfolie brandsicher gemacht. Fotos aus Notunterkünften in Dachau, Leutkirch und Ravensburg dienen als Referenzen.
Die Auftragsbücher sind voll, Zeit für eine Bilanz hatte Ebner seit dem Sommer nicht. Er schätzt, dass in 50 Landkreisen Wände und Kabinen der Firma stehen. Viele in Süddeutschland, manche in den Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof in Berlin, wo momentan 2.000 Menschen wohnen. Bis zu 70.000 Euro kostet die Ausstattung einer Turnhalle je nach Größe und System. Die Vorlaufzeit beträgt derzeit drei Wochen.
Was mit den Trennwänden passiert, wenn sie nicht mehr gebraucht werden, ist Ebner egal. „Die Behörden kaufen unsere Systeme, mieten lohnt sich schon nach vier Monaten nicht mehr.“ Damit ist auch klar: Kommunen und Länder planen für einen längeren Zeitraum.
8 Jan 2016
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