taz.de -- Kolumne Aufgeschreckte Couchpotatoes: Völlig losgelöst von der Erde
Das futuristische 70er-Jahre-Hotel auf dem Ještěd ist heute das Wahrzeichen der Region. Es erinnert an die Protestbewegung des Prager Frühlings.
Ein glänzender Stahlriese, 94 Meter hoch. Eine stählerne Schutzkapsel – irgendetwas zwischen Eiffelturm, Pagode und Raumschiff –, der ehemalige Sendeturm auf dem Berg Ještěd/Jeschken bei der tschechischen Stadt Liberec/Reichenberg weckt Raumschiff-Enterprise-Fantasien. Man ist sich sicher, im Foyer gleich Captain James T. Kirk zu treffen.
Der kegelförmige Hyperboloid hält seit 42 Jahren Stellung auf 1.012 Metern über dem Meeresspiegel. Konstruiert wurde er als Sendeturm der staatlichen Rundfunkanstalt mit integriertem Hotel und Restaurant. Seine Kegelform ist auch den extremen Witterungsbedingungen geschuldet, denn er ist Wind und Wetter gnadenlos ausgesetzt.
Die beiden niedrigsten Etagen sind dem Betriebsraum und der Hotelrezeption vorbehalten. Darüber befinden sich Restaurant, Café und Bar. Ein Stockwerk weiter liegt das Hotel mit 51 Betten. Die großzügigen Glasfenster lassen vom Bett aus den Blick frei über diese nordböhmische Region zwischen Lausitzer Bergen, Riesengebirge und Isargebirge. Die Turmspitze des Gebäudes besteht aus einem rohrförmigen Aufsatz, auf dessen Spitze eine 17 Meter hohe Antenne aufragt. Für die Konstruktion wurde neben viel Stahl viel Glas eingesetzt, der traditionelle Rohstoff dieser Gegend.
Ein 70er-Jahre-Schatzkästchen
Drinnen begegnet man zwar nicht Captain James T. Kirk, aber man ist sich sicher, er war hier: Das Interieur ist ein 70er -Jahre-Schatzkästchen. Abstrakte Formen und Knallfarben – insbesondere Orange, dazu grafische und geometrische Muster. Einrichtungsgegenstände, Tische und Lampen aus einem Guss, geschwungene Stühle und Ledersessel, 70er-Jahre-Retro-Barhocker. Von der Decke hängen kuschelige Sitzkörbe zum Schaukeln. All das findet man hier neu restauriert, geschmackvoll und edel wiederhergestellt.
Auch in der sozialistischen Tschechoslowakei waren die 70er Jahre geprägt vom politischen Protest des Prager Frühlings, der gewaltsam beendet wurde. Die Geschichte des heutigen Bauwerks auf dem Gipfel des Ještěd begann im Jahre 1966 – drei Jahre nachdem das erste Gipfelhotel abgebrannt war. Die Ausschreibung für den Sendeturm gewann der Architekt Karel Hubácek (Firma SIAL Liberec). Ein Vertreter seiner Generation: Alte Bilder zeigen ihn mit langen Haaren, Jeans und Rollkragenpullover. Das ungewöhnliche Projekt fand internationale Bewunderer. Es wurde 1969 mit dem Auguste-Perret-Preis ausgezeichnet.
Das futuristische 70er-Jahre-Hotel auf dem Ještěd ist heute das Wahrzeichen nicht nur der Stadt Liberec, sondern der ganzen Region. Einer Region, die sich zum Wandern und Skifahren bestens eignet. An den Hängen des Ještěd-Kammes gibt es nicht nur Skipisten, bekannt sind auch die Skisprungschanzen.
Das Hotel auf dem Ještěd ist weit sichtbar, vor allem wenn es nachts wie ein zurückgelassenes Raumschiff strahlt. Es ist nationales Kulturdenkmal der Tschechischen Republik und ein bezahlbares, fantastisches Vintage Hotel.
13 Dec 2015
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Es ist nicht nur ein Ärgernis für Touristen: Egal ob in Ägypten, auf einer Karibikinsel oder am Ostseestrand, die Souvenirs kommen oft aus China.
Präsident Miloš Zeman missbraucht den Feiertag der Meinungsfreiheit, um vor ausgesuchtem Publikum gegen Flüchtlinge zu hetzen.
Auch die VW-Tochter Škoda hat Software manipuliert. Sie ist eng an den Konzern gebunden. Was passiert mit ihr, wenn gespart werden muss?
Viele osteuropäische Staaten glauben, Roma gehörten nicht dazu, und stecken sie in Ghettos. Dabei waren die Länder schon immer multikulturell.