taz.de -- Philosoph Badiou über Paris-Massaker: Der Gefühlskultur widerstehen

Die Anschläge von Paris bewegen Alain Badiou zum Innehalten. Doch er bleibt dabei, dass der IS vom kapitalistischen Weltsystem generiert sei.
Bild: Badiou warnt davor, unkritisch dem Schrecken nachzugeben.

Sogar Alain Badiou, der davon überzeugt ist, dass die Öffentlichkeit sich chronisch statt mit dem „Hauptwiderspruch“ mit den falschen Themen beschäftige, muss im Fall der Pariser Massenmorde zugeben, dass dieses Mal eine „unerträgliche Ausnahme“ das „gewöhnliche Regime des Lebens“ durchbrochen hat.

Der Vortrag, den er am Montag hielt, brachte zahlreiche Zuhörer dazu, sich in das Stadttheater von Aubervilliers in der Pariser Banlieue zu bewegen. Auch wenn der Philosoph zugesteht, dass eine starke Affektreaktion angesichts der Maßlosigkeit des Massakers unerlässlich sei, warnt er davor, unkritisch dem Schrecken nachzugeben und sich zu einem „obskuren Subjekt“ deformieren zu lassen.

Man dürfe der abgewirtschafteten Staatsführung nicht erlauben, sich durch kriegerisches Gebaren eine neue Gesundheit zu geben. Man solle bereit bleiben, identitäre Verengungen zu durchbrechen und die emotionale Fähigkeit ausdehnen, auch auf andernorts in der Welt stattfindende Gräuel zu reagieren.

Um einer bloßen Gefühlskultur zu widerstehen, erinnert Badiou an ein Grundaxiom seines politischen Denkens: Nichts, was von Menschen gemacht ist, ist unverstehbar. Der Verstehensversuch, den er anbietet, bestätigt, dass er ein Denker, nicht aber feinmaschig nachdenklich ist. Festen Schrittes in den Stiefeln, die er seit Jahrzehnten trägt, voranschreitend, lässt er mehrere Jahrzehnte Kapitalismusgeschichte Revue passieren, um zu zeigen, dass das Übel „von weiter herkommt“.

Vom „Begehren des Westens“ strukturiert

Der 13. November 2015 hat seine Ursachen in der neoliberalen Entfesselung des Kapitalismus, die den Kapitalismus wieder das hat werden lassen, was er seinem innersten Wesen nach ist: eine Potenz der verheerenden totalen Destrukturierung von Gesellschaften und Menschen.

Badious kapitalismuskritische Beschreibung der „Logik der Massaker“ enthält viel Richtiges. Wenn er allerdings die Ursache der Attentate darin sieht, dass in den 70er Jahren die Idee des Kommunismus nicht gesiegt hat, ist seine Analyse in ihrer Allgemeinheit das Symptom einer Unfähigkeit zu trauern.

Reduktionistisch ist es auch, wenn Badiou die Attentäter als „faschisierend“ mit früheren Terrorbewegungen und sogar mit den Milizen der Kollaborateure der Petain-Zeit gleichsetzt. Ihre religiöse Identität ist für ihn ein bloßes Oberflächenphänomen. Eine gewisse Plausibilität hat dagegen seine Auffassung, die Attentäter und die „Banden“ des IS seien bis in ihren Identitätskern vom kapitalistischen Weltsystem generiert.

Er kategorisiert sie als Beispiele eines „Subjektivitätstypus“, den der mondialisierte Kapitalismus erzeuge: eines Typus Mensch, dessen Denken und Fühlen von dem „Begehren des Westens“ strukturiert sei, der dieses aber aufgrund seiner sozialen Ausgeschlossenheit verdränge und in den nihilistischen Trieb, das Objekt dieses Begehrens zu zerstören, konvertiere.

25 Nov 2015

AUTOREN

Forderer

TAGS

Schwerpunkt Islamistischer Terror
Neoliberalismus
Kapitalismuskritik
Philosophie
Philosophie
Terrorismus
Terrorismus
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Islamismus
Schwerpunkt Islamistischer Terror

ARTIKEL ZUM THEMA

Philosoph Tristan Garcia über Konsum: „Intensität ist kontraproduktiv“

Der Rausch geht zu Ende. Tristan Garcia verabschiedet den höchsten Wert des modernen Lebens, um uns vor der Depression zu retten.

Wissenschafts-Fake bei „Badiou Studies“: Ergibt absolut keinen Sinn

Die akademische Zeitschrift „Badiou Studies“ fällt auf einen Fake herein. Sie veröffentlichte den Text einer Autorin, die es gar nicht gibt.

Mit Kindern über Terror sprechen: Erklären, ohne Angst zu schüren

Gedenkminuten, Polizeischutz, Gespräche im Ethikunterricht – auf die Pariser Anschläge reagieren Schulen und Lehrkräfte unterschiedlich.

Debatte Terrorbekämpfung in Frankreich: Sozialer Humus des Dschihad

Zur Terrorbekämpfung wird fast nur auf Ausnahmezustand und Repression gesetzt. Es braucht aber eine Prävention der Gewalt.

Beerdigung eines Pariser Anschlagsopfers: Trauer in einem Dorf am Nil

Verwandte und Nachbarn trauern in Ägypten um einen in Paris erschossenen jungen Mann. Die Trauer kennt keine Grenzen in der globalisierten Welt.

Kolumne Leuchten der Menschheit: Vordenker der Opferkonkurrenz

Über die Trauer anderer urteilen? Wenn es das eigene ideologische System bestätigt, kann das bei so manchem Vordenker schon mal passieren.

Paris nach dem Terror: Wieder die Könige der Welt sein

Die Trauer im Pariser Osten ist allgegenwärtig, doch am Savoir-vivre halten die Menschen fest. Es ist ihre Antwort auf den Terror.

Theaterstücke von Alain Badiou: Der Triumph des Kommunismus

Der Philosoph Alain Badiou war mit seinen Theaterstücken in Berlin. Wie im Denken ging es um das Schaffen des Unmöglichen.

Philosoph Badiou über die Finanzkrise: Das Reale dieses Krisenspektakels

Der französische Philosoph Alain Badiou polemisiert gegen die Moral des Kapitalismus: Manager müssten sich wie "Raubtiere" benehmen, die jetzige Ordnung basiere auf "Banditentum".

Die Rede des Kapitalismuskritikers Badiou: Demokratie - Politik - Philosophie

Alain Badiou gehört zu jenen Denkern, die versuchen, ihre Kapitalismustheorie mit aktuellen politischen Fragestellungen zu verbinden. Auch bei den Mosse Lectures in Berlin.

Theoretiker Alain Badiou: Rigoros distanziert

Den französischen Theoretiker Alain Badiou umgibt die Aura unnachgiebiger Radikalität und erneuerter Kapitalismuskritik. Zu Recht?