taz.de -- Berlins Bürgermeister-Kandidatin: Künast lässt Grüne träumen
"Granate Renate" nannte Altkanzler Schröder die kleine Frau mit dem forschen Auftreten. Jetzt will sie Regierende Bürgermeisterin Berlins werden. Es könnte klappen.
Dieses verdammte Warten. Renate Künast steht auf einem dieser Empfänge in Berlin-Mitte und faltet die Hände vor dem Bauch. Sie hat das Politiker-Allzweck-Gesicht aufgesetzt. Das soll verhindern, dass Beobachter darin Wut, Müdigkeit oder sonst eine Emotion lesen können. Künast kann das sehr gut. Nur ihre Hände deuten ihre Anspannung an. Während eine Pianistin und Grünen-Abgeordnete am Flügel spielt, reibt Künast ihre Daumen mit den dunkelgrau lackierten Nägeln aneinander: Wenn sie doch endlich dran käme. Dann, endlich, darf sie ans Rednerpult.
"Es ist gut, ein Notenblatt zu haben, ein Stück", sagt Künast mit Blick auf die Pianistin. "Aber es kommt auch auf den Vortrag an." Danach schlägt sie binnen acht Minuten einen Bogen von der Gewerbesteuer über Frauen in Aufsichtsräten, Deutschkurse für Migranten und Urheberrechten im Internet bis zu Mindestlöhnen. Sie bekommt Applaus und erntet an den richtigen Stellen Gelächter. Künasts kleiner Auftritt beim Grünen-Empfang anlässlich des Deutschen Juristentages ist ein Erfolg.
Künast hasst es zu warten. Wie schwer muss es der 54-Jährigen da gefallen sein, über Monate hinweg zu schweigen, passiv zu bleiben ob der Frage: Treten Sie bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl im September 2011 an, um die erste grüne Regierungschefin eines Bundeslands zu werden? Doch die Ungeduldige hat sich zusammengerissen. Wenn Journalisten sie zum hundertsten Mal danach fragten, setzte sie stets ihr Sphinx-Gesicht auf - und schwieg. So lange, bis ihr Schweigen ein "Ja" überflüssig machte.
Seit Mittwochabend ist nun klar, dass Künast das bisher Unmögliche möglich machen will: Sie will Klaus Wowereit nach dann zehn Jahren aus dem Roten Rathaus werfen, der Entwicklung der Grünen zur "Volkspartei" ein unübersehbares Symbol geben: Renate Künast, Regierende Bürgermeisterin von Berlin.
Das Eingeständnis, dass sie antritt, war so verklemmt wie das monatelange, vielsagende Schweigen zuvor: Für den 5. November lädt die Partei zu einem "erweiterten Mitgliederabend" mit Künast ins Berliner Museum für Kommunikation. Dort läuft derzeit eine Ausstellung über "Gerüchte". Zwei Tage später ist die Landesdelegiertenkonferenz. Künast, soll das heißen, wird Anfang November medientauglich ihre Kandidatur verkünden.
Aber selbst das Offensichtliche spricht Künast immer noch nicht aus. Von Joschka Fischer hat sie viel gelernt, auch die Weisheit: "In den letzten Wochen vor der Wahl gibt es keine Hintergrundgespräche." Alles, was sie sagt, kann und wird gegen sie verwendet werden. Künast hält ihre Karten daher nah am Körper. So, wie sie es immer getan hat.
Die kleine Frau mit den großen Ambitionen hat es geschafft, in 30 Jahren als Berufspolitikerin kaum etwas über sich selbst preiszugeben. Über ihr Privatleben ebenso wenig wie über ihre beruflichen Ambitionen. Bekannt ist nur, dass sie mit ihrem Lebensgefährten, einem Strafverteidiger, in Berlin lebt. In 31 Jahren in der Politik hat sie die klassische Parteikarriere gemacht: Abgeordnete, Fraktionschefin im Landesparlament, Bundesvorsitzende, knapp fünf Jahre Bundesministerin für Verbraucherschutz. Dass nichts Privates öffentlich wird, dafür sorgen auch ihre Freunde, von denen sie einige seit Jahrzehnten kennt: Grünen-Politiker wie sie und ihr gegenüber loyal.
Einer davon ist Volker Ratzmann. Der Fraktionschef der Grünen im Abgeordnetenhaus ist schlanker im Gesicht geworden in den vergangenen Monaten. Seine kleine Tochter hält ihn auf Trab. Patentante der Kleinen ist Künast. Offenbart sie ihm, was sie plant, oder ist sie selbst im trauten Kreis verschlossen? Ratzmann überlegt lange - und sagt schließlich: nichts. Besser gesagt: Erst sagt er etwas durchaus Unverfängliches. Am Tag aber, als etliche Zeitungen Künasts Kandidatur auf Seite Eins vermelden, möchte er sich nicht zitiert sehen. Nur nichts Falsches sagen. Offiziell, so lächerlich das mittlerweile wirkt, ist Künast ja noch immer keine Kandidatin.
Eigentlich wäre der Fraktionschef die erste Wahl für die Spitzenkandidatur. Aber nur Künast bringt es fertig, dass in Umfragen schon jetzt mehr Wähler angeben, sie würden für sie stimmen als für Wowereit. Dabei galt der über Jahre als unantastbar, als knuddeliger "Wowi". Es ist Ratzmanns zweite Niederlage: Vor zwei Jahren wollte er für den Parteivorsitz kandidieren - und zog zurück, als der populäre Cem Özdemir antrat.
Reichlich Arbeit bereitet Ratzmann auch die Arbeit am neuen Wahlprogramm, das im März 2011 verabschiedet werden soll. Es ist positiver Stress, denn es läuft blendend für die Partei. In Umfragen für Berlin sind die Grünen an der SPD vorbeigezogen und liegen deutlich vor der CDU. Die Bevölkerung der Hauptstadt hat sich seit 1990 zur Hälfte ausgetauscht. Allein seit dem Jahr 2000 war es ein Drittel. Auf dieses Drittel hoffen die Grünen. Die gebildeten Zugezogenen in Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder Charlottenburg sollen die Grünen zur größten Fraktion im Stadtparlament machen. Es könnte klappen. Aber was dann?
Wie wollen die Grünen eine Stadt regieren, die mehr als 60 Milliarden Euro Schulden drücken und am Tropf milliardenschwerer Bundeszuschüsse hängt? Die 3,4-Millionen-Stadt wird bei der Wirtschaftskraft pro Kopf sogar vom ländlichen Ostwestfalen abgehängt.
Beim Wahlprogramm, das dieses Problem zum Thema haben soll, werkeln zwei Vertraute Künasts mit. Der eine war Mitautor des Grundsatzprogramms der Grünen, der andere leitete die Kampagne Joachim Gaucks zur Wahl des Bundespräsidenten. Künast überlässt auch hier nichts dem Zufall.
Sollte die gebürtige Recklinghausenerin tatsächlich das Rennen machen, wird sie vermutlich einige Lehren ihres Amtsvorgängers Wowereit beherzigen. Der versteht sich als weltweiter Werbeträger fürs vom Tourismus abhängige Berlin: offenherzig, feierfreudig, großmäulig. Künast wäre, so gesehen, Wowereits perfekte Nachfolgerin.
Denn das kann die Frau, die Mitte der Siebzigerjahre aus dem Rheinland nach West-Berlin zog, am besten: repräsentieren, Plätze füllen, Aufbruchsstimmung vermitteln, handfest wirken. Es kommt nun mal auch auf den Vortrag an. Die einstige Sozialarbeiterin in der Justizvollzugsanstalt Berlin-Tegel könnte sich als robuste Aufräumerin gerieren, die beim Namen nennen darf, was in den Vierteln Wedding oder Neukölln schlecht läuft bei der Integration.
Das ist die eigentliche Herausforderung für die Grünen. Wie gehen die einstigen Alternativen damit um, wenn sie die Richtlinienkompetenz haben? Wenn die Partei keine Sozis oder Schwarzen mehr vorschieben kann, wenn es bei Reformen schleppend voran geht? Künast wäre Teil eines Experiments der rasant gesamten, wachsenden Partei.
Eine Horrorvorstellung für die Ungeduldige und Kontrollversessene wäre es, wenn ihre Rechnung nicht aufgeht - und die Grünen doch nicht die stärkste Fraktion bilden. Bloß keine Rückkehr auf die Oppositionsbänke des Abgeordnetenhauses, in dem sie bis 2000 insgesamt 13 Jahre lang gearbeitet hat. Keine piefigen Diskussionen über vereiste Gehwege und Anwohnerparkausweise. Deshalb soll sie, wie es aus Parteikreisen heißt, sich für den Fall einer Niederlage eine Rückkehr in den Fraktionsvorsitz im Bundestag offen halten. Prompt kritisierte Wowereit am Donnerstag die "Kandidatur mit Rückfahrkarte in die Bundespolitik".
An dem Abend, als Künast ihre Acht-Minuten-Rede hält, steht Hans-Christian Ströbele in einer Saalecke und hört zu. Das Grünen-Urgestein brachte die schwelende Debatte um Künasts Kandidatur Anfang des Jahres in Schwung, als er die Frage von Reportern bejahte, ob sie fürs Amt geeignet sei. Die daraufhin fast hysterische Debatte betrachtet der 71-Jährige mit gelassener Heiterkeit. Künast werde das schon machen, urteilt Ströbele, sie habe ja jede Menge Erfahrung.
Und mit wem wird die Partei koalieren? Mit der seit 1989 mitregierenden, müde gewordenen SPD? Oder mit der stramm konservativen CDU, die sich zurücksehnt nach den fetten Neunzigerjahren? "Es stellt sich natürlich die Koalitionsfrage ganz anders, wenn die Grünen der Koch sind und nicht der Kellner." Ströbele lächelt bei dem Gedanken: Seine kleine Partei hat einen langen Weg hinter sich.
Ein paar Meter weiter spricht Künast mit ein paar Juristen. Sie gestikuliert, baut sich vor den viel größeren Männern auf, fordert Aufmerksamkeit ein. Bis zur Wahl wird sie davon mehr bekommen, als ihr lieb sein kann.
21 Oct 2010
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