taz.de -- Politikwissenschaftler über Syrien und Iran: "Daraa ist das Guernica unserer Zeit"

Auch die Iraner verfolgen den Ausgang der arabischen Revolte. Steht auch das Mullahregime vor seinem baldigen Ende? Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Nader Hashemi.
Bild: "Die Grüne Bewegung will Reformen, keine Revolution.": Demo in Teheran.

taz: Herr Hashemi, Sie haben sich zuletzt intensiv mit der Lage in Syrien beschäftigt. Wie schätzen Sie die derzeitige Situation dort ein?

Nader Hashemi: Das Regime in Syrien offenbart die Untiefen moralischer Verwerfung, zu denen autoritäre Regime bereit sind hinabzusteigen, um an ihrer Macht festzuhalten. Die Stadt Daraa ist das Guernica unserer heutigen Zeit. Die Berichte, die uns von dort erreichen, besagen, dass die Stadt von der Außenwelt abgeschottet ist. Das Straßenbild wird von Panzern beherrscht. Wohngebiete stehen unter Beschuss. Leichen liegen auf den Straßen und verwesen, weil sie wegen der Scharfschützen des Regimes nicht geborgen werden können. Seit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking hat die Welt keine derartige staatlich sanktionierte Gewalt gegen gewaltlose demokratisch gesinnte Demonstranten mehr gesehen.

Welche Auswirkungen haben die Vorgänge in Syrien auf die Demokratiebewegung im Nachbarland Iran?

Die demokratisch gesinnten Akteure im Iran werden es sich derzeit zweimal überlegen, ob sie zu einer Demonstration aufrufen. Wie auch in Syrien verfügen die Machthaber des Irans über loyale Truppen, die dazu bereit sind, auf Befehl friedlich protestierende Menschen en masse zu erschießen.

Aber die Proteste in der arabischen Welt haben die Demokratiebewegung im Iran in ihren Absichten doch sicherlich ermutigt und bestärkt?

Das haben sie. Insbesondere die Revolten in Tunesien und Ägypten.

Inwieweit haben die arabischen Aufstände den politischen Diskurs im Iran beeinflusst?

Im Iran kämpfen das Regime und die Grüne Bewegung um die Deutungshoheit über die historischen Ereignisse. Die machthabende geistliche Oligarchie hat versucht, die Proteste als eine Bestätigung der islamistischen Ideologie und des Geists der Islamischen Revolution von 1979 zu deuten. Aus Sicht der Grünen Bewegung ist es aber genau umgekehrt: Die arabischen Aufstände stehen in der Tradition der iranischen Demokratiebewegung von 2009 sowie der Grünen Bewegung. Am 14. Februar haben die Dissidenten die Verlogenheit des iranischen Regimes bloßgestellt: Da die Regierung so tat, als würde man die arabischen Proteste unterstützen, beantragte man eine Solidaritätsdemonstration für die Rebellion in Tunesien und Ägypten. Dies wurde natürlich nicht zugelassen, die Anhänger der Grünen Bewegung gingen aber trotzdem auf die Straße. Das Regime reagierte panisch und paranoid, man hatte die Protestbewegung zuvor offiziell für "tot" erklärt.

Was sind die Unterschiede zwischen den Protestbewegungen im Iran und denen in den arabischen Staaten?

Die Grüne Bewegung will Reformen, keine Revolution. Die Führungsfiguren setzen nach wie vor auf eine Demokratieentwicklung im Rahmen der bestehenden Verfassung. Sie beziehen sich dabei auf die Passagen, in denen von den Bürgerrechten die Rede ist. Diese Strategie ist nicht unumstritten: Schließlich ist in diesem Dokument festgelegt, dass die klerikale Herrschaft über der des Volkes steht.

Die Religion ist für Sie also mit Blick auf die Demokratisierung des Irans eher Teil der Lösung?

Sie ist sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung. Die Frage ist doch, von welcher Art und Auslegung der Religion wir reden - die Religion der regierenden Oligarchie oder der der Grünen Bewegung. Dieser Punkt berührt einen neuralgischen Punkt von Religion schlechthin: Sie kann sich auf unterschiedliche Weise manifestieren - sowohl prodemokratisch als auch antidemokratisch. Schon John Locke und Alexis de Tocqueville haben das erkannt.

Wenn man die Politik im Iran verändern möchte, kommt man an der Religion nicht vorbei?

Die offizielle Interpretation der Religion im Iran ist autoritär, obwohl sie sich quasidemokratisch geriert. Das Regime leitet seine Legitimation von ihrer Interpretation des Islams ab, und es hat panische Angst, dass sich alternative Interpretationen durchsetzen könnten. Ahmadinedschads vermeintlicher Mentor, Ajatollah Mesbah-Jasdi, wird mit den Worten zitiert: "Wenn dir jemand zuträgt, er habe eine neue Interpretation unseres Glaubens, dann schlag ihm mit der Faust ins Gesicht." Oder denken Sie nur an den 2009 verstorbenen Großajatollah Hossein Ali Montaseri, der als das moralische Gewissen der Grünen Bewegung galt. Er war Chomeinis Ziehsohn und designierter Nachfolger, den man schließlich entmachtete und unter Hausarrest stellte, weil er eine demokratische Auslegung des Islams propagierte.

Die jetzige Regierung pflegt einen patriarchalischen Führungsstil. Trotzdem sind gerade Frauen im Iran sehr aktiv - wie die Anwältin Schirin Ebadi, die Regisseurinnen Rakhshan Bani-Etemad oder Tahime Milani. Bereits vor fünf Jahren waren mehr Frauen als Männer an den Universitäten immatrikuliert. Wie ist dies zu erklären?

Dieses Phänomen ist eine unbeabsichtigte Folge der Islamischen Revolution. Anders als das Regime des Schah hatte man seit 1979 stark in Bildung investiert. Als Folge sank die Analphabetenrate bei Frauen, die Akademikerrate stieg, es entwickelte sich sogar eine feministische Bewegung im Iran. Die Bildungspolitik wird dem Regime jetzt zum Verhängnis: Die Grüne Bewegung wird maßgeblich von Studentinnen getragen, die nicht bereit sind, die Gender-Apartheid des Regimes zu akzeptieren. Viele dieser Frauen sind dabei sowohl Feministinnen als auch fromme Muslimas. Zahra Rahnaward - die Ehefrau von Mir Hossein Mussawi, dem Kopf der Grünen Bewegung - ist Universitätsprofessorin, Feministin, Künstlerin und trägt dennoch den Tschador.

Dennoch wurde die Repression zuletzt verstärkt, auch international bekannte Kulturgrößen wie der Filmemacher Jafar Panahi wurden inhaftiert.

Die Verurteilung von Jafar Panahi ist eine offene Kriegserklärung an alle Intellektuellen und Künstler im Land. Die Botschaft lautet: Das Regime duldet auch im Kulturellen keinerlei Opposition. Man möchte alle einschüchtern und mundtot machen. Der Vorgang zeigt, dass sich der Iran seit 2009 von einem autoritären Staat zu einem neototalitären Staat im Stil von Libyen oder Syrien gewandelt hat.

Verfolgt die Regierung in China ähnliche Ziele wie die iranische, wenn sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit einen Künstler vom Format eines Ai Weiwei einfach verschwinden lässt?

Es gibt Parallelen. Autoritäre Regime wie Iran und China leiden unter einem Mangel an Legitimität, eben weil sie ihre Macht durch Repression absichern und undemokratisch regieren. Weder Panahi noch Weiwei sind dezidiert politische Künstler, und dennoch stellen sie ihre Regime in Frage, weil sie mit ihrer Kunst dazu auffordern, kreativ zu sein und unabhängig zu denken. Diese Künstler werden als Bedrohung empfunden - und ihre Inhaftierung zeigt, wie populär sie in der Bevölkerung sind und dass sie tatsächlich maßgeblichen Einfluss haben. Die internationale Gemeinschaft darf dieses Vorgehen nicht tolerieren.

Länder wie China und Iran kontern Kritik aus dem Ausland mit dem Gebot der Nichteinmischung. 1953 initiierte der Westen den Sturz der Mossadegh-Regierung im Iran.

Der schädliche Einfluss dieses Umsturzes auf die iranische Politik kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der Iran hatte damals Mossadegh demokratisch gewählt. Aber weil er die Ölindustrie verstaatlichen wollte, wurde er von Briten und Amerikanern gestürzt. Dann wurde der Schah als diktatorischer Herrscher installiert, der das Land brutal unterdrückte. Das bereitete den Nährboden für die intolerante Ideologie der Islamischen Revolution. Der Iran hat sich von diesem Trauma bis heute nicht erholt. Die jetzige Regierung missbraucht dieses Kapitel in der Geschichte des Landes: Jeder Kritiker des Regimes wird bis heute als Komplize ausländischer Mächte dargestellt. Verschwörungstheorien haben die politische Kultur des Landes korrumpiert. Aus westlicher Perspektive scheinen sie bizarr und absurd, aus iranischer aber vielen überzeugend.

Der Iran ist heute ein Geächteter der internationalen Staatengemeinschaft. Sie sehen dennoch Licht am Horizont, was stimmt Sie optimistisch?

Die sozialen Bedingungen für eine demokratische Entwicklung sind erstaunlich gut: Es gibt eine beachtliche Mittelklasse, ein hohes Bildungsniveau, eine trotz allem hoch entwickelte politische Kultur. Trotz Unterdrückung existiert eine lebendige Zivilgesellschaft, die in der Lage wäre, politische Reformen auch umzusetzen. Die jüngsten arabischen Rebellionen haben zudem einen Kontext geschaffen, der sich positiv auf die Demokratisierung des Irans auswirken wird. Der Kampf der Ideen im Iran ist doch bereits entschieden. Liberale und demokratische Vorstellungen sind in der Zivilgesellschaft breit verankert. Und das Regime weiß das auch. Das Modell, an dem sich die Menschen orientieren, ist nicht Nordkorea, Birma oder der Sudan. Es sind die freien und demokratischen Gesellschaften des Westens. Der Wandel aber, und davon bin ich überzeugt, wird aus dem Iran selbst kommen und nicht von außen.

6 May 2011

AUTOREN

Gropp

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