taz.de -- Debatte guter Aufstand, schlechter Aufstand: Ein paar Tage sichtbar sein

Ein guter Aufstand hat ein Ziel und Ideale. Ein schlechter Aufstand hat Opfer und ist sinnlos. Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht, er zeigt wie sie sind.
Bild: Guter Aufstand oder schlechter Aufstand? Ausschreitungen nach einer Demonstration für Bildungsreformen in Chile.

Mit Verwunderung wurde bemerkt, dass der Aufruf "Empört euch!" bei den Bürgern in der ökonomischen und sozialen Mitte viel mehr Gehör fand als bei den viel direkteren Verlierern von Neoliberalismus und Sozialabbau. Und nun "explodiert" auch in Europa einmal das Ghetto.

Doch statt eines Aufstandes sehen wir in Großbritannien ein sonderbares Durcheinander von Hooliganismus, Terror, Kriminalität, eine hedonistische Masse wendet sich blitzrasch vom ersten Anlass der Empörung, dem Übergriff der Polizei, ab und einer Destruktions- und Plünderorgie zu. Diese "Revolte", so scheint es, will nichts ändern, provoziert mit dumpfer Gewalt eine nicht weniger dumpfe Gegengewalt. Sie ist ein Schock, und sie ist, was zu erwarten war.

Guter Aufstand, böser Aufstand

Ein guter Aufstand hat ein Ziel und einen Diskurs. Ein schlechter Aufstand bricht aus oder entzündet sich. Ein guter Aufstand benennt den Gegner und sucht nach Allianzen. Ein schlechter Aufstand kommt übers "Wir zeigen es denen" nicht hinaus. Ein guter Aufstand formt in seinem Protagonisten Selbstbewusstsein, ein schlechter Aufstand erzeugt Rausch und Katzenjammer. Ein guter Aufstand hat Adressaten, ein schlechter Aufstand hat Opfer. In einem guten Aufstand geht es um Ideen und um Ideale, in einem schlechten Aufstand geht es um Randale, Flachbildfernseher und Schnaps. So einfach ist das?

Da ist der heroische, solidarische und kluge Aufstand der mittelständischen Jugend in der Arabischen Welt und in Israel. Und da ist der feige, materialistische und dumpfe Aufstand der Verwahrlosten. Da ist der gerechte Kampf einer Jugend, der man die Zukunft verweigern will, und da ist die sinnlose Brutalität von Kids, die nichts zu verlieren und nichts zu gewinnen haben als den schnellen Kick. Gewiss, so viel werden noch die empörtesten Kommentatoren zugeben müssen: Die tieferen Ursachen für die "guten" wie für die "schlimmen" Aufstände (und wenn die Grenzen einmal nicht mehr so eindeutig sind, wissen wir, wer die Definitionsmacht hat, sie zu ziehen) sind miteinander verwoben.

Wie die alten Diktaturen, so übertreibt es auch der neue Kapitalismus bei der Erzeugung von "überflüssigen Menschen", Menschen, die keine Zukunft aber sehr viel Energie haben. Und so, wie der bürgerliche Aufstand vor allem seine Bürgerlichkeit ausdrückt, drückt der Unterschicht-Riot seine Deplatziertheit aus. Dass man den eigenen Lebensort zerstört, ist nur konsequent, denn so wenig man Zukunft hat, so wenig hat man hier "Heimat".

Die moralische Empörung des bürgerlichen Aufstandes und die Energie der sozialen Revolte sind erst gemeinsam wirklich gefährlich. Doch so weit entfernt voneinander wie derzeit waren sie wohl noch nie. Nicht zuletzt, weil sich ein Bild zu festigen beginnt: Die Unterschicht des Neoliberalismus ist monströs, und sie hat offenbar kaum ein anderes "Klassenbewusstsein" als den Genuss dieser Monstrosität. Für den konservativen europäischen Mainstream ist die neue Unterschicht unerträglich, weil es sich für sie nur um ein "Anspruchsdenken" ohne "Leistungsbereitschaft" handelt.

Monströse Unterschicht

Das vielleicht Neue an der Unterschicht im Neoliberalismus ist eine ganze eigene Konsumkultur: Fernsehprogramme von erlesen schlechtem Geschmack, Überfluss von Nippes aus dem 1-Euro-Laden, Produktlinien der Ghettotextilien, das obligatorische Kapuzen-Outfit der Kids, die nur respektiert werden, wenn sie "böse" sind, und das rülpsende Massenentertainment der Eltern, das Herumhängen, spezifische Schnapssorten, eine eigene Sprechweise findet seine mediale Reflexion, sogar so etwas wie einen Unterschicht-Tourismus gibt es.

Wenn man alle Kulturwaren für die neue Unterschicht zusammennimmt, erkennt man eine doppelte Absicht: ein ökonomisches Segment, das dem Staat hilft, an Sozialleistungen zu sparen (diese neue Unterschicht lebt nicht im Mangel, sondern in einem giftigen Überfluss) und das den entsprechenden Konzernen enormen Profit abwirft einerseits, und die Erzeugung eben jener Dumpfheit und Blindheit, die man dann als Argument gegen das Verlangen einsetzt, aus diesem Ghetto herauszukommen.

Ist es nicht unerträglich, jemanden nicht aus Hunger, sondern wegen ein paar Markenartikeln aus der Fernsehwerbung rauben, plündern und sogar töten zu sehen, der vielleicht gerade eine Arbeit ausgeschlagen hat, weil er für die paar Kröten keinen Finger krumm machen will? Der Unterschichtler scheint sich dem Ethos des Kapitalismus so radikal zu verweigern wie er sich seinen Versprechungen und Illusionen unterwirft. Ist aber seine Rücksichtslosigkeit beim Haben-Wollen vom Kuchenstück nicht die direkte Spiegelung der Rücksichtslosigkeit des Bankers?

Bürgerkrieg gegen Plünderer

Aber noch unerträglicher als für das konservative Bürgertum ist die neue Unterschicht für die kritisch-dissidenten Teile des Bürgertums, die "sozialen Bewegungen" allzumal. So sind die allgemeine Lähmung und die eruptiven Riots der Unterschicht so wenig anschlussfähig wie diese Unterschichtkultur. Die Unterschicht im Neoliberalismus ist, bevor man sie als Opfer sieht, in ihrer medialen und öffentlichen Präsenz vor allem Karikatur des Systems. Im schlechten Aufstand plündern die Kids die Läden mit den Markenklamotten, denen der gute Aufstand den moralisch-ästhetischen Kampf angesagt hat.

Nicht minder vorhersehbar sind die Reaktionen in der Mitte. Dem Vater wird die Wohnung gekündigt, weil sein Sohn sich am Riot beteiligt hat. In der moralischen Empörung der Mainstream-Gesellschaft erkennt der Staat die Chance, schon wieder ein paar Elemente des Rechtsstaates über Bord zu werfen. Schon kursieren in England Internetpetitionen, in denen Randalierern das Recht auf Sozialhilfe abgesprochen wird, und dem Staat wirft man allenfalls vor, zu wenig Polizisten zu bezahlen. Kurzum: Es wird so etwas wie ein "Bürgerkrieg gegen den Terror" ausgerufen, und wie im so grandios gescheiterten Krieg gegen den Terror ist auch darin nur eines sicher: Die Produktion neuer Terroristen.

Hätten die "Randalierer" ein ähnliches Ziel wie die Terroristen, die wir als kalte Täter kennen, so hätten sie auch dieses erreicht: das Sichtbarmachen des Hasses in der Gesellschaft, das Sichtbarmachen des Unterschiedes. Die Stärkung der "Zellen" bzw. der Gangs. Es ist ein zweifellos terroristischer Selbstgenuss: Der Erfolg der Randale, neben ein paar am Ende wohl eher bescheidenen Beutestücken, ist das erhebende Gefühl, für ein paar Nächte Angst und Schrecken verbreitet zu haben, für einmal sichtbar geworden zu sein, und womöglich bleibt man es im Bürgerkrieg gegen den Unterschichtterror sogar für eine Weile.

Der schlechte Aufstand ändert die Verhältnisse nicht; er zeigt, wie sie sind. Wer will das schon sehen?

17 Aug 2011

AUTOREN

Seesslen

TAGS

Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
Schwerpunkt Meta

ARTIKEL ZUM THEMA

Jahrestag der Riots von London: In Tottenham schwelt die Wut weiter

Vor einem Jahr brachen in London tagelange Unruhen aus. Auslöser war die Erschießung eines schwarzen Jugendlichen durch die Polizei. Aufgeklärt ist der Fall bis heute nicht.

Britische Autorin über August-Krawalle: "Die Jugendlichen haben keine Orte"

Nach den Krawallen wird sich die Spaltung britischer Städte noch verstärken, so die Autorin Anna Minton. Den Ausbruch der Gewalt hält sie auch für ein spätes Resultat der Politik von New Labour.

Essay über die Randale in England: Mechanismen der Eskalation

Nur sinnlose Zerstörung oder attraktive Quelle der Anerkennung? Wie lassen sich die August-Krawalle von England erklären? Und was folgt daraus? Eine Analyse.

Debatte Lumpenproletariat: Produkt des Sittenverfalls

Marx sprach vom "Lumpenproletariat". Die britische Elite spricht von "Kriminellen", wenn sie die Randalierer in den Städten meint. Beide machen es sich zu einfach.

Britisches Bildungssystem: Hoffnungen zweiter Klasse

In den Problembezirken Großbritanniens sind Schulen oft schlecht ausgestattet, das soziale Umfeld schätzt Bildung nicht wert. Wer dort aufwächst, für den bleibt Oxford unerreicht.

Über Facebook zu Plünderungen angestiftet: Vier Jahre Haft für Randale-Aufruf

Weil sie über Facebook zu Krawallen aufgerufen hatten, sind zwei Männer im Nordwesten Englands zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Das Urteil soll laut Richter abschreckend wirken.

Rebellen in Libyen: Pläne für Tag X

Die Aufständischen in Libyen rücken Stück für Stück auf Tripolis vor. Klar wird auch, wie sie die Stadt einnehmen möchten und was sie für die Zeit danach planen.

Kommentar Cameron und die Riots: Cameron spielt für die Galerie

David Camerons Reaktionen auf die Riots sind blinder Aktionismus. Bei den Maßstäben, die angelegt werden, darf man sich nicht über Unruhen wundern.

Krawalle in London: Keine Ideen außer Chaos

In den 80ern richteten sich die Krawalle gegen rassistische Polizeigewalt. Heute kennen weder Polizei noch Mob den Unterschied zwischen Politik und Niedertracht.