taz.de -- Verkehrs-Debatte im taz-Wahllokal: Rücksicht wäre ein Anfang

Fußgänger gegen Radfahrer gegen Autofahrer: Es ist ein Kreuz mit dem Verkehr: Politiker und Lobbyisten diskutierten im tazcafé Probleme und Lösungen.
Bild: Schon beim Radverkehr wird es ziemlich eng - Konflikte mit Autofahrern sind da programmiert.

Das Problem war schnell gefunden beim dritten taz-Wahllokal, das sich am Mittwochabend unter dem Motto "Wem gehört die Straße?" dem Verkehr widmete: Berliner haben einfach keine Mobilitätskultur. "Mein erstes Erlebnis beim Fahrradfahren in Berlin war, dass ich von den Autofahrern von der Straße gehupt wurde", erzählte Willi Loose vom Bundesverband Carsharing. Mitfühlendes Nicken auf dem Podium und im Publikum.

Loose war einer von fünf Politikern und Lobbyisten, die gut zwei Wochen vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus über Vorhandensein und Wirkung der Berliner Verkehrspolitik diskutierten. Außerdem dabei: die verkehrspolitischen Sprecher von SPD (Christian Gaebler), Grünen (Claudia Hämmerling), CDU (Oliver Friederici) und Kerstin Emma Finkelstein vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club.

Die mangelhafte Mobilitätskultur wollte niemand infrage stellen - nur die daraus resultierenden Symptome nehmen die Verkehrsexperten sehr unterschiedlich war. "Viele Autofahrer sehen Radfahrer nicht als vollwertige Verkehrsteilnehmer an", kritisierte Finkelstein. "Der Straßenraum ist immer noch so aufgeteilt wie vor 20 Jahren", bemängelte Hämmerling - dabei habe sich der Anteil des Fahrradverkehrs verdoppelt.

Shared Space, das Modekonzept des Jahrzehnts, durfte da nicht fehlen. Alle Verkehrsteilnehmer nutzen die Straße gleichberechtigt, so die Idee. Kein Radweg, kein Gehweg, keine Fahrspuren, keine parkenden Autos, nur rechts vor links. "Dieses scheinbar Regellose führt dazu, dass die Verkehrsteilnehmer aufeinander achten", sagte Hämmerling. Loose pflichtete ihr bei: Shared Space verunsichere die Autofahrer, sie würden nicht mehr auf ihr vermeintliches Recht pochen und mehr Rücksicht nehmen. Mobilitätskultur für Anfänger eben.

Das Publikum hatte andere Sorgen: Ein Zuhörer kritisierte die mangelhaften Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme im öffentlichen Nahverkehr, eine Zuhörerin fürchtete sich vor Radfahrern auf dem Gehweg, ein Dritter vor Schlaglöchern im Asphalt: Besonders nach Regenfällen seien die so schlecht zu sehen.

"Verkehrspolitik ist etwas, was auf lange Linien setzt, das macht man nicht von einem Tag auf den anderen", sagte Gaebler. Ob eine Linie von 10 Jahren Rot-Rot ausreiche, oder ob mindestens 15 nötig wären, sagte er nicht.

Und was macht man nun? Viel Applaus erntete Finkelstein für die Forderung nach härten Strafen für das Zuparken von Radwegen. Außerdem müssten Autofahrer konsequent zum Schulterblick, mit dem beim Rechtsabbiegen auf Radfahrer geachtet werden soll, gebracht werden.

"Das Recht muss besser durchgesetzt werden", forderte dagegen Friederici, um dem Klischee des CDU-Politikers gerecht zu werden. Das schaffte er sonst nicht immer: Zuerst outete er sich als Nichtautobesitzer, dann dachte er laut über Tempo 30 auf der Friedrichstraße nach. Doch während sich die Grünen seit Wochen gezwungen sehen, zu dementieren, dass sie Tempo 30 auf Hauptverkehrsstraßen wollen, klingt der Vorschlag aus dem Mund eines CDU-Abgeordneten auf einmal gar nicht mehr so skandalös. Zumindest kam im Publikum kein Protest auf.

"Alle müssen aufeinander Rücksicht nehmen", meinte dagegen Gaebler, angelehnt an die Forderung nach einer Mobilitätskultur in der Stadt. Vielleicht so, wie die zahlreichen Radfahrer, die während der Diskussion auf dem Gehweg vor dem taz-Café vorbeifuhren. Rechtswidrig natürlich. Aber rücksichtsvoll.

Ein Videostream der Veranstaltung ist auf [1][www.taz.de/zeitung/tazinfo/videos/] abrufbar.

1 Sep 2011

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AUTOREN

Svenja Bergt

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