taz.de -- Berichterstattung über behinderte Menschen: „Blinde leben nicht in Dunkelheit“
Wie berichtet man richtig über Menschen mit Behinderung? Die neue Internetseite Leidmedien.de zeigt's ohne erhobenen Zeigefinger – wie ihre vier Macher betonen.
Wie ist die Idee zu [1][„Leidmedien – Über Menschen mit Behinderung berichten“] entstanden?
Raul Krauthausen: Bei der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung ist uns öfters aufgefallen, dass nicht nur Themen wie Inklusion oder Barrierefreiheit im Mittelpunkt standen, sondern auch die Leistung, die ein Mensch ‘trotz seiner Behinderung’ geschafft hat. Das stimmt aber nicht. Viele andere und ich haben es mit der Behinderung geleistet. Man wird als Mensch mit Behinderung schnell zum Helden oder Opfer. Also haben wir uns überlegt, eine Handbuch oder Ratgeber anzubieten, wie man solche Sachen vermeidet und warum man sie vermeiden sollte. Zusammen mit der Robert Bosch Stiftung, die uns finanziell unterstützten, wurde dann leidmedien.de gebaut.
Wo liegt das Problem in der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung in Deutschland?
Raul Krauthausen: Das Problem ist, dass viele Menschen ohne Behinderung gar keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderung haben und dadurch hauptsächlich die Bilder aus dem Fernsehen kennen. 90% der Informationen, die Leute in Deutschland über Menschen mit Behinderung haben, stammen aus den Medien, weil das Leben hier sehr getrennt stattfindet. Wir finden es schade, dass immer diese entwertenden Bilder rüberkommen. Dass ein Rollstuhl gleich die Assoziation weckt, an ihn gefesselt zu ein. Aber der Rollstuhl ist ein Hilfsmittel, das erst die Freiheit und Mobilität ermöglicht.
Was findet man auf der Internetseite leidmedien.de?
Rebecca Maskos: Wir haben versucht die ganzen Klischees und Floskeln, zu sammeln, ihre Bedeutungen zu klären und bessere Formulierungsvorschläge zu geben. Es sind aber auch Herangehensweisen, die wir thematisieren. Beispielsweise werden Menschen mit Behinderung häufig geduzt oder es wird nicht mit ihnen geredet, sondern mit dem Werkstattleiter oder der Mutter. Wir wollen zeigen, dass sich nicht immer alles um die Behinderung dreht und sie auch kein fortwährend Leiden bedeutet. Außerdem wurden Hintergrundinformationen zusammengestellt: statistische Daten, Begriffserklärungen und die geschichtliches zu Menschen mit Behinderung.
Lilian Masuhr: Außerdem klären wir Fragen, die aufkommen, wenn man Menschen mit Behinderung interviewt: Wie gebe ich jemandem die Hand, wenn er keine hat? Wie kommuniziere ich mit jemanden, der schwerhörig ist? Denn wenn diese Fragen nicht geklärt werden, gibt es für den Journalisten schon am Anfang des Interviews ein Barriere, die es unnötig erschwert.
Aber nicht nur ihr kommt auf leidmedien.de zu Wort. Es gibt auch Gastbeiträge...
Lilian Masuhr: Genau, Bloggerinnen und Blogger, Kommunikationsberater und Journalistinnen mit Behinderung beschreiben aus ihrer Sichtdie Berichterstattung über behinderte Menschen. Die meisten erzählen von fragwürdigen Darstellungen, aber Paralympicssportlerin Christiane Reppe erzählt auch über ihre positiven Erfahrungen mit der Werbekampagne von ARD und ZDF, in der eine Olympische Schwimmerin und sie nebeneinander stehen, mit dem gleichen Ziel: zu gewinnen. Das ist auch der Grundtenor der Seite, wir zeigen nicht nur, was alles nicht funktioniert, sondern wie es gehen könnte. Das spiegelt sich dann auch in den journalistischen Beiträgen wieder.
Die Seite ist seit heute online. Wie soll das Projekt leidmedien.de in Zukunft weitergeführt werden?
Andi Weiland: Die Seite ist in sich abgeschlossen. Wir werden vielleicht noch Artikel nachreichen oder auf Feedback reagieren. Und wir können uns aber schon vorstellen, Workshops anzubieten, wenn nachgefragt wird. Oder wenn eine Redaktion sich informieren will, wir auf ein Gespräch vorbeikommen und man einfach mal über die Problematik redet. Aber wir wollen nicht die Deutungshoheit haben, sondern nur eine Grundlage geben, um sich zu informieren und sensibilisiert zu werden.
Raul Krauthausen: Wir hoffen, dass dadurch ein anderes Verständnis für dieses Thema herrscht. Wir beißen nicht. Nur über ein Miteinander erreicht man eine Sensibilisierung für die Problematik. Wir wollen den Journalisten keinen Vorwurf machen. Denn auch sie haben häufig sehr wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung. Das ist zwar nicht unser Hauptthema auf der Seite, aber trotzdem setzen wir uns dort auch dafür ein, dass es mehr Menschen mit Behinderung in den Medien gibt. Sowohl als Redakteure, als auch Autoren. Aber auch, dass sie mehr als Experten zu Themen, die nicht unbedingt etwas mit Behinderungen zu tun haben, befragt werden.
Welche Erfahrungen habt ihr in diesen drei Monaten gesammelt, in denen leidmedien.de gebaut wurde?
Lilian Masuhr: Es war ein kreativer Prozess, sich mit dem Thema auseinander zu setze. Selbst wir im Team hatten manchmal Unsicherheiten, wie man bestimmte Sachen ausdrückt. Für mich war es zum Beispiel neu, darüber nachzudenken, dass es einen großen Unterschied gibt zwischen „Der Behinderte“ und „Der behinderte Mensch“.
Raul Krauthausen: Ich habe gelernt, dass ein Blinder nur weil er keine Farben und kein Licht kennt, nicht in Dunkelheit lebt.
16 Aug 2012
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