taz.de -- Kolumne Das Tuch: Blind vor lauter Ärger

Ich spüre kein dringendes Verlangen mehr, alles und jeden zu überzeugen, mich zu verteidigen. Ich bin keine Wutbürgerin mehr. Ich bin jetzt gelassen.

Nicht mehr wütend zu sein, das habe ich irgendwann beschlossen. Nicht mehr wütend über die bis in den Himmel stinkenden Ungerechtigkeiten von Menschen und auf ihre Macht. Denn die Wut ändert nichts an der Ungerechtigkeit, aber mich. Sie macht den Wütenden kaputt, verbittert. So will ich nicht werden.

Und dann ist es passiert: Die Wut war weg. Die Wut ist langsam und vorsichtig gegangen und hat eine seltsame Gelassenheit in mir hinterlassen. Eine, die mich manchmal selbst überrascht. Ich spüre kein dringendes Verlangen mehr, alles und jeden zu überzeugen, mich zu verteidigen. In Menschen, die mich aufgrund von Äußerlichkeiten nicht mögen oder gar hassen, sehe ich eine spannende Herausforderung. Ich will sie verstehen.

Im Zug zwischen Davis und Berkeley an der Westküste der USA schreit mich eine Frau an. Sie schimpft über die Muslime, die den Westen ruinierten. Dann schaut sie mir in die Augen. „Nichts gegen dich“, sagt sie. „Aber die Muslime sollten endlich zurück in ihre Länder. Und ihr Öl können sie mitnehmen!“

Ich schaue aus dem Zugfenster auf die Landschaft, an der wir vorbeirasen. Es ist ein anderes Amerika, das ich bei dieser Reise erlebe. Nicht mehr nur Großstädte mit Glitzer, hellen Nächten und beschäftigten Menschen, sondern auch Natur, Grün, ruhige, kaputte Menschen, Armut und Einsamkeit.

Ich beobachte, wie sie aus dem Fenster schaut, schmerzvoll lächelnd und zitternd. „Weißt du“, flüstert sie, „ich bin gekommen, um zu sterben.“ Sie habe Krebs, keine Versicherung, einen Sohn im Gefängnis, eine Mutter, die sie hasst, und bald werde es einen Tsunami geben. Sie werde ihn stoppen. Weil ihr Sohn im Gefängnis nicht weglaufen und sich schützen könne.

Terror, Unterdrückung und Kopftuch

Ein paar Wochen später bin ich im konservativen US-Staat Texas. Meine Freundin Macarena ist dort Professorin an einer kleinen Universität. Letzte Woche hätten sie im Unterricht über Muslime diskutiert, hitzig und schwierig sei die Debatte gewesen. „Die haben noch nie Muslime getroffen“, erklärt Macarena. Heute sitze ich mit ihr vor den Studenten. Einige vermeiden Augenkontakt. Ich erzähle drauflos, die Stimmung löst sich. „Fragt ruhig“, sage ich anschließend. „Egal, was ihr wollt.“

Es kommen die klassischen Fragen zu Terror, Unterdrückung und Kopftuch. Dann meldet sich eine Studentin. Sie möchte gerne etwas gestehen, sagt sie. Das erste Mal habe sie von Muslimen aus dem Fernsehen erfahren, der 11. September war es gewesen. Später habe sie ein Buch über eine unterdrückte Frau in Saudi-Arabien gelesen. „Jedes Wort habe ich aufgesaugt“, sagt sie.

„Und dann hatten wir eine muslimische Nachbarin. Ich habe sie nicht sehr oft gesehen.“ Sie wird rot, ihre Augen gläsern. „Eines Tages stand ein Krankenwagen vor ihrem Haus. Ihr Mann hatte sie die Treppen heruntergestoßen.“ Sie lächelt mich an. „Es ist das erste Mal, dass ich eine Muslimin wie Sie kennen lerne.“

Macarena schickt mir später einen Text, den die Studentin über unsere Begegnung geschrieben hat. Er endet mit den Worten: „Ich möchte meine Welt neu ordnen, verstehen und mögliche Missverständnisse beheben. Ich weiß, es wird lange dauern. Aber ich kann mir keinen besseren Weg mehr vorstellen, als mein Leben mit der Suche nach der Wahrheit zu verbringen, statt mit Lügen zu leben.“

Das möchte ich auch. Denn die Wut macht blind.

3 Dec 2012

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Kübra Gümüsay

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