taz.de -- Kolumne Nüchtern: Entweder abstinent oder tot

Gerade zum neuen Jahr gilt: Wer wirklich herausfinden will, ob er oder sie Alkoholiker ist, sollte versuchen, kontrolliert zu trinken.
Bild: „Abhängigkeit wird erst in ihrer Endphase zu einer Krankheit“.

In dem Moment, in dem Sie diese Kolumne lesen, werden überall auf der Welt die ersten guten Neujahrsvorsätze gebrochen. Das ist ganz normal. Zumindest, wenn diese Vorsätze das Trinken betreffen, liegt das Problem meistens schon im Ansatz begraben. Ungefähr vier Fünftel der Bevölkerung können trinken und müssen ihren Alkoholkonsum nicht kontrollieren. Sie kommen gar nicht auf die Idee oder machen es ganz einfach automatisch.

Die anderen werden über kurz oder lang abhängig, wenn sie Alkohol trinken, und die willentlichen Versuche, in ihrem Konsum zu pausieren oder ihn zu regulieren, führen mittel- und langfristig zu rein gar nichts. Es ist sogar so, dass Trinkpausen heute in den meisten Sucht- und Burn-out-Kliniken als Indikator für eine Abhängigkeitsdiagnose gelten. Und wer wirklich herausfinden will, ob er oder sie Alkoholiker ist, sollte versuchen, kontrolliert zu trinken. Bei mir hat dieser Test prima funktioniert.

Dass so viele Menschen immer noch denken, dass sie gegen Abhängigkeit immun sind, liegt unter anderem daran, dass man sie so schwer erkennt. Die längste Zeit trinken Alkoholkranke asymptomatisch, ihr Verhalten folgt keinem klar als pathologisch codierten Muster. Viele von ihnen glauben zudem, dass sie gar nicht abhängig werden können. Sie denken etwa, nicht der Alkohol mache krank, sondern eine schon vor dem Trinken existierende Persönlichkeitsstörung.

Es hat lange gebraucht, bis diese recht weit verbreitete Ansicht wissenschaftlich als das Vorurteil entlarvt wurde, das sie ist. Erst einige Langzeitstudien lieferten dafür eindrückliche Nachweise. 1938 etwa begann an der Harvard University eine der größten soziologischen Untersuchungen der Menschheit.

Die Harvard Grant Study

268 junge College-Studenten, die privilegiertesten Männer ihrer Generation, wurden dafür regelmäßig nach ihrer Gesundheit, ihren Beziehungen, ihren Arbeitsverhältnissen und ihrem allgemeinen Zufriedenheitsempfinden befragt. Das ursprüngliche Ziel der Harvard Grant Study war es, die Bedingungen zu erforschen, unter denen ein Leben am besten gelingen kann.

Doch wie George Vaillant, der heutige Direktor der Studie in seinem Buch „Triumphs of Experience“ beschreibt, hatte keiner der Soziologen damit gerechnet, wie extrem die Auswirkungen schweren Trinkens sind. Das Trinkverhalten der Teilnehmer wurde zu einem Hauptfokus der Studie.

Starker Alkoholkonsum war unter fast allen Befragten der aussagekräftigste Indikator für Angstzustände, Depressionen, Soziophobie, zerbrochene Beziehungen und Einsamkeit im Alter – egal wie positiv die psychologischen Voraussetzungen waren, mit denen sie als Jugendliche einst in die Studie gestartet waren.

Probleme mit Intimität, emotionaler Konnektivität, Aggressionen und Bedürfnisaufschub wurden unter fast allen Teilnehmern die Regel, sobald sie Alkohol missbrauchten. Auch wenn viele von ihnen lange nicht als alkoholkrank zu diagnostizieren waren. 58 Prozent von ihnen verlor erst nach dem 45. Lebensjahr die Kontrolle über ihr Trinken.

Ein Drittel der Studienteilnehmer leben noch

Von den 268 Männern der Harvard Grant Study sind heute noch ungefähr ein Drittel am Leben, sie sind um die 90 Jahre alt. Kaum einer von ihnen hat regelmäßig getrunken. Die Männer, die schwer tranken und sich nicht für ein nüchternes Leben entschieden, starben im Durchschnitt 17 Jahre vor ihren einstigen Studienkollegen.

Die ehemaligen Trinker, die nüchtern waren, aber meistens viel rauchten, lebten noch ein paar Jahre länger. Erst zu diesem Zeitpunkt wurde der sonst so asymptomatische Alkoholismus des Harvard-Jahrgangs von 1938 zu einem klar erkennbaren Phänomen. Denn Abhängigkeit wird erst in ihrer Endphase zu einer Krankheit, die zwei unmissverständliche Erscheinungsformen hat: Entweder man wird abstinent oder man stirbt.

2 Jan 2014

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Daniel Schreiber

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