taz.de -- Die Wahrheit: Winternacht mit Nudeln

Wie die Witterung draußen auch beschaffen sein mag: Mitten in der Nacht ist es besser, drinnen zu bleiben und sich ein wenig Pasta aufzuwärmen.

Nicht der Oberbürgermeister, sondern ich erwachte und sah auf meinen Reisewecker. Es war ein Uhr morgens: Zeit, Nudeln zu essen. Die Küche befand sich im Zustand der Auskühlung, ich musste den Wintermantel des Oberbürgermeisters anziehen. In der Hoffnung, ein wenig Wärme damit zu generieren, schaltete ich das alte Transistorradio ein – ich verstand nun einmal nichts von Chemie. Naturgemäß wurde es jetzt noch kälter, und ich schaltete das Radio aus.

Noch halb schlafend, wünschte ich, Mädchen mit Häubchen brächten Hühnchen oder Brathähnchen, doch nichts dergleichen geschah. Die Nudeln in der alten Kasserolle waren mindestens so kalt wie die Küche und mussten erwärmt werden – am besten mit dem alten Elektroherd, so dass auch die Raumtemperatur zunahm. Also nahm ich mittels Schalterdrehung eine Herdplatte in Betrieb und leitete die Erwärmung der Nudeln ein. Eine ähnliche Szene wäre auch in Russland denkbar gewesen.

Draußen hielt der kalendergetriebene Winter über Nacht an. Das von den alten Glühbirnen ausgehende Licht flackerte stark, ich wusste: Das war das Irresein der Lampen, die Fachleute nannten es albernerweise Luminuminosa. Wild drehte ich an der Fassung, bis die Beleuchtung sich stabilisierte. Nichtsdestoweniger „schrieb man Winter“, wie sich kürzlich eine Sprachkraft beim mehrfach reformierten Kultursender ausgedrückt hatte. Ich schreibe jetzt Nudelnaufwärmen, dachte ich beim Rühren. Meine individuelle Natur wollte, dass bei diesem sehr schwierigen Vorgang einige Nudeln aus der Kasserolle geschleudert wurden und auf dem Boden landeten, wo sie nichts mehr galten. Die Mahlzeit verringert sich, wurde mir klar, doch ich rührte weiter.

Geräusche von draußen empfahlen sich meinen Gehörgängen. Kehrten die Toten wieder? Nein, die Lebenden räumten Schnee. „Um ein Uhr morgens?“, fragte ich die Nudeln. Zu meiner Überraschung antworteten sie, es sei bereits sieben. Versuche, meine Schlafdauer daraufhin neu zu berechnen, scheiterten. Das Nudelnaufwärmen erforderte meine gesamte Geisteskraft. Schließlich waren sie so warm, dass sie gegessen werden konnten. Ich war im Nu damit fertig und fragte mich, ob es das alles wert gewesen sei.

Nicht ohne Melancholie zu empfinden, sah ich aus dem Küchenfenster. Da war die abgenutzte Straße. Jemand hatte alte Häuser in den Schnee gestellt. Im Hintergrund liefen pechschwarze Gestalten herum und entzogen sich der Begründung durch die Vergrößerungszange. Bei genauerem Hinsehen wurden weitere Gestalten sichtbar, die sich vorher in den grauen Mauern der Häuser verborgen hatten.

Eine von ihnen, ein offenkundig schnauzbärtiger Mann mit Melone auf dem Kopf, trug einen kaum zugeknöpften Übergangsmantel. Es schienen keine Frauen unter den an Schornsteinfeger und Revolverhelden erinnernden Figuren zu sein, die sich da im Winter auf die Einkaufsstraße hinauswagten. Je länger ich hinsah, desto infamer wurde ihr Gesichtsausdruck. Dies war nicht der Zeitpunkt, auszugehen und neue Freunde zu gewinnen.

14 Jan 2014

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Egner

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