taz.de -- Parlamentswahlen in Indien beginnen: Ohrfeigen und Bescheidenheit

Der regierenden Kongresspartei droht ein Absturz. Profitieren könnten Hindunationalisten, aber auch die „Partei des einfachen Mannes“.
Bild: Chef der „Partei des einfachen Mannes“: Arvind Kejriwal bei einer Wahlkampfveranstaltung Anfang April.

DELHI taz | Die Zeichen stehen auf Abwahl, nur die regierende Kongresspartei selbst scheint das noch nicht gemerkt zu haben. Auf der Marktstraße in Shalimar Park animiert eine Frau die Menge. „Sandeep Dikshit“, ruft sie. „Zindabad“ antworten sie. „Lang lebe Sandeep Dikshit“. Der kommt aus einer Seitenstraße, die Hände zur Begrüßung gefaltet. Unter den gut einhundert Unterstützern bricht Jubel aus.

Sandeep Dikshit ist seit 10 Jahren der Abgeordnete aus Ostdelhi. Parallel regierte seine Mutter Sheila Dikshit als Ministerpräsidentin den Stadtstaat Delhi, bis sie im Dezember 2013 bei den Regionalwahlen eine verheerende Niederlage einstecken musste. Die neu gegründete Aam Aadmi Partei (AAP, „Partei des einfachen Mannes“) holte aus dem Stand 28 der insgesamt 70 Sitze und übernahm zeitweise die Regierung. Die Zahl der Sitze der Kongresspartei aber sackte von 43 auf 8 ab.

Für die indische Parlamentswahl, die am Montag beginnt, sagen [1][alle Prognosen] das gleiche Schicksal voraus. Jeder zweite Abgeordnete der Kongresspartei wird wohl aus dem Parlament fliegen. 543 Sitze werden im indischen Unterhaus vergeben. Die Kongresspartei soll von 201 Sitzen auf nur noch 105 abstürzen, ihr schlechtestes Ergebnis seit der Unabhängigkeit Indiens, [2][eine Ohrfeige für Korruptionsaffären], die Verteuerung der Lebensmittel und das Absacken des Wirtschaftswachstums. Doch in Shalimar Park lässt sich Sandeep Dikshit feiern, als stünde sein Sieg fest.

Dikshit und seine Mutter stehen in Ostdelhi für große Infrastrukturprojekte, die Metro und breite Schnellstraßen. Viele Einwohner beschweren sich aber darüber, dass Nebenstraßen nicht gepflastert sind und Wasser- und Gasleitungen fehlen. „Die Preise steigen, und Dikshit unternimmt nichts“, sagt der Besitzer eines Melassestands. Ein Teeverkäufer ärgert sich, dass er seit zwanzig Jahren brav die Wasserrechnung bezahlt, „aber einen Wasseranschluss bis heute nicht bekommen“ hat.

Der Wahlkreis Ostdelhi hat etwas von der Vielfalt von ganz Indien. Sechs Millionen Menschen bewohnen verschnörkelte Villen am Stadtrand oder schlafen, kochen und spielen auf wenigen Quadratmetern in zahlreichen Zelt- und Barackensiedlungen – oft Migranten aus anderen Teilen des Landes. Der Melasseverkäufer will die BJP – die indische Volkspartei – wählen, und damit steht er nicht allein. Die Umfragen versprechen den Hindunationalisten eine Verdopplung ihrer Parlamentssitze von 112 auf etwa 215. Es wäre das beste Ergebnis der Partei seit ihrer Gründung, und anders als die Kongresspartei macht sie offensiv Werbung. Vor allem mit ihrem Spitzenkandidaten, Narendra Modi.

Antimuslimische Pogrome

Modi steht für die Hoffnung, dass es nach dieser Wahl wieder aufwärtsgeht. Seit gut zwölf Jahren regiert er das westindische Bundesland Gujarat; er hat den Ruf, ein effizienter Manager zu sein. Doch während Modis Industrieprojekte für sehr hohes Wachstum sorgten, blieb das Bundesland bei der Armutsbekämpfung im Mittelfeld Indiens. Umstritten ist Modi auch, weil er erst sehr spät gegen die [3][antimuslimischen Pogrome in Gujarat vorging], bei denen es 2002 mehr als tausend Tote gab. Doch all das konnte Modis Image noch nichts anhaben. Der Standbesitzer in Ostdelhi wird seine Stimme zwar dem Yogalehrer geben, der für die BJP in Ostdelhi antritt – doch sie gilt Modi. „Er kann das Land retten“, schwärmt er.

Glaubt man den indischen Medien, gibt es bei dieser Wahl nicht nur zwei, sondern drei Volksparteien. Beflügelt vom Überraschungserfolg in Delhi, will die AAP nun auch landesweit zu punkten. Unter den über 400 Kandidaten finden sich zahlreiche Aktivisten und Akademiker. So auch in Ostdelhi, wo Rajmohan Gandhi, Enkel und Biograf des Unabhängigkeitskämpfers Mahatma Gandhi, antritt.

Parteisymbol: ein Besen

Gandhis Wahlkampfbüro befindet sich an der Abfahrt einer Schnellstraße, im zweiten Stock einer Ladenzeile. Der Eingang ist mit mannshohen Plastiksäcken vollgestellt, in denen sich weiße Bauernkappen stapeln. Die Kappen sind das Markenzeichen der AAP, ihr bescheidenes Symbol: ein Besen.

Gandhi ist erst spät in die Partei eingetreten, Ende Februar, aber gleich zum Kandidaten gemacht worden. „Wenn ich gewinne, will ich die Slum- und Villenbewohner zusammenführen“, sagt der 79-Jährige. „Wir müssen die Lebensbedingungen in den Slums verbessern.“ Zumindest hier in Ostdelhi könnte es der AAP gelingen, einen Parlamentssitz zu ergattern. Ein Parteisprecher spekuliert, dass viele Wähler von der Kongresspartei zur AAP wechseln könnten, um einen Sieg der BJP zu verhindern. Gerade Muslime würden niemals für die Hindunationalisten stimmen, sagt er. Deren Anteil beträgt in Ostdelhi ca. 35 Prozent.

Die Prognosen sagen der Partei aber nur wenige Sitze voraus. In einem Elektrowarengeschäft der Ladenzeile will Besitzer Faizan Ali ihr zumindest eine Chance geben: „Wir haben ja gesehen, was die anderen Parteien bisher getan haben.“ Jetzt gebe es doch endlich eine Alternative.

6 Apr 2014

LINKS

[1] http://timesofindia.indiatimes.com/home/lok-sabha-elections-2014/news/Two-separate-polls-now-put-magic-number-272-within-NDAs-grasp/articleshow/33250652.cms
[2] http://www.tehelka.com/an-epitaph-for-the-congress/
[3] http://indianexpress.com/article/opinion/columns/gujarats-growth-for-growths-sake/99/

AUTOREN

Lalon Sander

TAGS

Indien
Parlamentswahl
Delhi
Kongresspartei
Indien
AAP
Indien
Indien
Indien
Indien
Arvind Kejriwal
Indien

ARTIKEL ZUM THEMA

Streit über indischen Kinofilm: Menschen oder Mörder?

Kurz vor der geplanten Premiere hat die indische Regierung einen Film über Ex-Regierungschefin Indira Gandhi gestoppt. Er könne zu Gewalt führen.

Dritter Wahltag in Indien: Fiepen für die Hindunationalisten

Am Donnerstag wurde in Indien über 91 der insgesamt 543 Parlamentssitze entschieden. Im Osten des Landes starben zwei Soldaten bei einem Anschlag.

Wahlkampf in Nordindien: Einfache Frau und feiner Mann

Die Bauernaktivistin Balwinder Kaur fordert den mächtigen Kohlemillionär Naveen Jindal heraus. Die Geschichte eines ungleichen Wahlkampfes

Parlamentswahl in Indien: Hackbarer Volkswille

Zum dritten Mal stimmen die Inder ausschließlich mit Wahlcomputern über ihr Parlament ab. Die Geräte sind jedoch sehr einfach zu manipulieren.

Wahl und Wahlsystem in Indien: Sechs Wochen Urnengang

Die Wählerzahl ist riesig, die Sicherheitsvorkehrungen sind groß. Auch deshalb ist die Wahl in Indien eine der längsten in der jüngeren Geschichte des Landes.

Wahlkampf in Indien: Zwischen Slums und Wolkenkratzern

Wandel, Wohltaten, aber auch Korruption sind Schlagworte des Wahlkampfs. Drei der Kandidaten: ein Yogalehrer, ein Akademiker und ein Millionär.

PR-Wahlvideo über 97-jährigen Wähler: Indiens ältester Patriot




Seit 1951 geht Shyam Negi in einem Dorf im Himalaja wählen. Kurz vor den Parlamentswahlen stellt Google Indien ein PR-Video mit ihm ins Netz.

Regierungschef von Delhi tritt zurück: Der „Normalbürger“ will nicht mehr

Nach einer überraschend erfolgreichen Wahl bildete die Antikorruptionspartei AAP in Indien die Regierung von Delhi. Nach nur 50 Tagen gibt ihr Chef wieder auf.

Indiens Premier kündigt Rückzug an: Rente mit 81

Im Alter von 71 Jahren wurde Manmohan Singh Premierminister Indiens. Nun will er die Politik verlassen, selbst wenn seine Partei die Wahl gewinnt.