taz.de -- Dramatikerin über Moldau und Europa: „Absolut kein Anlass zur Hoffnung“

Die Dramatikerin Nicoleta Esinencu sieht die europäische Perspektive ihrer Heimat pessimistisch. Den Glauben an Veränderung hat sie aufgegeben.
Bild: EU-Flaggen als Symbol der Hoffnung bei einer Kundgebung in Chisinau im November 2013.

taz: Frau Esinencu, woran denken Sie, wenn Sie „Europa“ hören?

Nicoleta Esinencu: Oh. Das ist kompliziert, und es wird momentan sehr überlagert davon, was in der Region passiert. Die Politiker spielen sehr gern das Europa-Spiel – nach dem Motto: Natürlich sind wir Europäer; seht uns doch an! Aber es reicht nicht, sich ein Kostüm anzuziehen, um etwas zu sein, das man sein will. Von den europäischen Politikern, die nach Moldau kommen, habe ich denselben Eindruck. Sie spielen das Spiel unter umgekehrten Vorzeichen, reden von Reformen und Entwicklung und tätscheln dem Land wie einem gut erzogenen Kind das Köpfchen. Aber in der Realität sehe ich absolut keinen Anlass zur Hoffnung.

Hoffnung worauf?

Auf welche Art von Veränderung auch immer.

Auch darauf, dass Moldau eines Tages Teil der EU sein könnte?

Natürlich träumen wir davon. Aber wenn man sieht, was in Griechenland und anderen Ländern passiert, kann ich mir nicht vorstellen, dass Europa sich noch mehr Probleme leisten kann. Und auf unsere Politiker ist kein Verlass. An einem Tag schwingen sie große Reden über Demokratie, und am nächsten verbieten sie die Gay Pride Parade.

Können Sie frei arbeiten?

Ja, aber wir werden auch nicht unterstützt. Unsere Arbeit findet völlig abseits jeder staatlichen Kanäle statt.

Und können Sie Ihre Stücke veröffentlichen?

Kein einziges ist veröffentlicht. Die Leute können kommen und sehen sich meine Performances an. Aber sie können nicht in die Buchhandlung gehen und meine Texte kaufen.

Und in Rumänien?

In Rumänien ist ein bisschen etwas herausgekommen.

Ihr Stück „Fuck you, Eu.ro.Pa!“ ist in mehrere europäische Srachen übersetzt

Ja, in über zehn Sprachen.

Sind Sie im Ausland bekannter als in Ihrem eigenen Land?

Bekannt? Ach was. Es gab eine Zeit, in der ich ziemlich viel gereist bin, Stipendien hatte und Projekte in anderen Ländern. Aber ich hatte irgendwann das Gefühl, ich sollte wieder mehr zu Hause arbeiten. Und so habe ich begonnen, die kleine Bühne aufzubauen, auf der jetzt meine Performances stattfinden.

Performances, bei denen Sie selbst auftreten?

Nein, ich arbeite mit Schauspielern. Ich führe Regie und schreibe die Texte. Wir sind eine kleine Gruppe. Natürlich müssen wir für unseren Aufführungsort Miete zahlen und auch sonst alles selbst organisieren. Irgendwie kriegen wir es hin.

Ihre Texte sind sehr zornig. Brauchen Sie die harsche Umgebung der moldauischen Realität, um so schreiben zu können?

Absolut nicht. Ich denke, die Realität hat überall genügend dunkle Seiten, um darüber schreiben zu können. Ich denke nicht an Moldau, wenn ich schreibe.

Woran arbeiten Sie gerade?

Es geht um eine reale Geschichte, die ich von einer jungen Schauspielerin gehört habe. Eine junge Frau hat den Traum, nach Amerika zu gehen, und braucht dafür 3.000 Dollar. Um das Geld aufzutreiben, geht sie nach Moskau. Viele Moldauer machen das. Sie arbeiten dort auf Baustellen, meistens werden sie ausgebeutet, oft werden sie gar nicht bezahlt. Am Ende aber bekommt die junge Frau das Geld und fliegt nach Amerika. Verrückt: Willst du nach Amerika, musst du zuerst nach Russland!

Wäre das Schreiben einfacher, wenn Sie für längere Zeit ins Ausland gingen?

Ich habe das Gefühl, es ist wichtig, da zu sein, in meinem Land. Es gibt so viele Themen, über die wir sprechen müssen, Dinge, die bei uns noch nie wirklich angesprochen wurden. Den Holocaust zum Beispiel. Oder was es bedeutet, homosexuell zu sein. In Moldau geht das eigentlich gar nicht. Die Leute werden zusammengeschlagen, verfemt, von ihren Familien verstoßen. Wer sich traut, sich zu outen, ist geradezu ein Held.

Was passiert, wenn Sie dieses Thema verarbeiten, wenn ein bildender Künstler sich damit beschäftigt? Könnte man diese Bilder ausstellen?

Zensur gibt es nicht. Es gibt wahrscheinlich eine gewisse Kontrolle der staatlichen Bühnen. Wir anderen können machen, was wir wollen. Das ist aber kein Zeichen der Toleranz, sondern der Ignoranz.

Moldau grenzt an die Ukraine. Sind die Ereignisse dort spürbar bei Ihnen?

Odessa ist nur 200 Kilometer von Chisinau entfernt. Niemand versteht so richtig, was dort passiert. Die Spannungen zwischen Rumänen, Moldauern und Russen nehmen zu. Dieser Nationalismus ist auch etwas, worüber nie wirklich gesprochen wurde. Es gab nach dem Zerfall der Sowjetunion antirussische Demonstrationen. Viele Russischsprechende haben damals aus Angst das Land verlassen.

Wie würden Sie Ihre eigene kulturelle Identität beschreiben?

Die ist mir inzwischen egal. Rumänisch ist meine Muttersprache. Aber es ist nur eine Sprache.

10 May 2014

AUTOREN

Granzin

TAGS

Republik Moldau
Ukraine
Russland
EU
Homophobie
Theater
Moldau
Referendum
Russland
EU
Republik Moldau

ARTIKEL ZUM THEMA

Premiere von Nicoleta Esinencu in Berlin: Vertreibung böser Geister

Patriarchat, Staat, Kapitalismus – alles wird mit Besen und Lärm vertrieben in Nicoleta Esinencus Performance „Die Abschaffung der Familie“ in Berlin.

Republik Moldau: Die EU entzweit das Land

Die Unterzeichnung eines EU-Assoziierungsabkommens stößt auf Zustimmung und Ablehnung. Gegner fürchten um die guten Beziehungen zu Russland.

Die Ostukraine vor dem Referendum: Ein ökologisches Notstandsgebiet

Die Kleinstadt Zugres liegt etwa 50 Kilometer östlich von Donezk. Ein Großteil der Bewohner befürwortet die Unabhängigkeit der Region. Ein Besuch.

Russische Feierlichkeiten zum 9. Mai: Siegeseuphorie wie zu Sowjetzeiten

Mit einer Parade auf dem Roten Platz zelebriert Moskau den Sieg über NS-Deutschland. Und Putin wird auf der Krim für die Annektion der Halbinsel gefeiert.

Die EU und ihre östlichen Nachbarn: Suche nach einem Plan B für Kiew

Kurz vor dem Gipfelstart in Vilnius ist Ukraines Präsident Viktor Janukowitsch der gefragteste Gesprächspartner. Wie soll es weitergehen mit der Ukraine?

Misstrauensantrag der Kommunisten: Republik Moldau ohne Regierung

Die Oppsition in der Republik Moldau brachte ihren Misstrauensantrag im Parlament durch. Die europafreundliche Regierung von Vlad Filat tritt ab.

Blick nach Moldau am Weltkrebstag: Geld oder Leben

Im ärmsten Land Europas, der Republik Moldau, kommt eine Krebsdiagnose oftmals einem Todesurteil gleich. Wer leben will, muss zahlen können.

Parlamentswahlen in der Republik Moldau: Sieg für die Opposition

Eine knappe Mehrheit stimmt für die Mitte-rechts-Parteien. Kommunisten bleiben jedoch stärkste Kraft. Die Wahl eines neuen Staatspräsidenten wird zur ersten Bewährungsprobe.