taz.de -- Die Wahrheit: Mauerfall mit Gossen-Goethe

Tagebuch einer Gratisleserin: Wer vorige Woche die Umsonst-„Bild“-Zeitung zum Mauerfall-Jubiläum bekam, der durfte steinerweichend lachen.
Bild: Boulevard-Journalist Franz Josef Wagner bei einem Interviewtermin in Berlin, am 28. 7. 2008

Wer vor ein paar Tagen eines der 42 Millionen Gratisexemplare einer Sonderausgabe der Bild-Zeitung zum 25. Jahrestag des Mauerfalls aus dem Briefkasten zog, durfte auf der Titelseite den erschütternden Bericht des auch als „Gossen-Goethe“ bekannten Bild-Kolumnisten Franz Josef Wagner über sein Leben als Mauerstein lesen: „Liebes Deutschland. Ich sah Menschen, die vor mir verbluteten. Ich sah Mütter, die weinten. Ich war ein Stein in einem Land ohne Licht“. And a Rock feels no pain, was wohl derartigen verschwurbelten Prosakitsch erklärt. Aber nein! Wagner fährt fort: „Steine können lachen. Steine können weinen.“

Ratlos blättert man vom Stein zum „Denkmal“ Exkanzler Kohl. Bombastisch bestrahlt, als gelte es, Pink Floyds „The Wall“ auszuleuchten, sinniert er allein und im Rollstuhl vorm Brandenburger Tor. „Es ist kalt“, beschwert er sich schließlich – vermutlich, damit in dem Begleittext, der ihm „einsame Gedanken“ andichtet, wenigstens ein authentischer Satz vorkommt.

Von Helmut Kohl geht es auf direktem Weg zu Simone Thomalla und ihrer Tochter Sophia und hinein in die „schönste Form der Ostalgie“. Die präsentiert sich allerdings eher wie die Schlampen-WG einer Reality Soap, in der die Damen mit schwellenden Lippen und gereckter Brust (Simone) und hingeräkelt im knappen Trägerkleidchen (Sophia) in einer angeblich seit 1989 unveränderten, original möblierten Ostwohnung posieren.

Sophia will wissen, warum ihre Mutter zu DDR-Zeiten – damals im sechsten Monat schwanger – bei einer Reise nach Castrop-Rauxel nicht rübergemacht hat. „Ich bekam Schnappatmung“, lautet die Antwort, „ein klassischer Fall von Reizüberflutung.“ Reizüberflutung in Castrop-Rauxel?!

In Chile mit Lockenwickler im Haar

Frau Thomalla lässt noch wissen, dass man in der DDR „relative Sicherheit“ hatte, „keine großen Sprünge“ machen, aber auch „nicht ins gesellschaftliche Abseits geraten“ konnte. Stasi-Opfer werden das sicher gern bestätigen.

Des weiteren treten auf: Margot Honecker, die in Chile mit Lockenwickler im Haar beim Öffnen ihrer Haustür fotografiert und mit dem – irgendwie nachvollziehbaren – Satz „Hauen Sie ab, Sie unverschämter Kerl!“ zitiert wird; eine Auswahl kompetenter Zeitzeugen – unter ihnen Brad Pitt, Cameron Diaz und Albert von Monaco –, die ihre Gefühle vom Tag des Mauerfalls mitteilen dürfen; ein aus der DDR stammender Bild-Redakteur, der beim Versuch, sein Begrüßungsgeld zurückzuzahlen, scheitert – wobei sich die Frage stellt: Wie blöd darf man eigentlich sein, um Bild-Redakteur zu werden?

Zwischendrin empfindet Siemens „Freude. Ungeteilt.“, und die Deutsche Bank wirbt sinnbefreit für „Freiheit aus Leidenschaft“. Jubelnde Menschen auf der Berliner Mauer, untertitelt mit „Wir sind das Volk“ werden ungefragt Teil einer „Wir sind das Auto“-Kampagne von VW. Und weiter geht’s mit Google, Media Markt, Vodafone etc. …

Lieber F. J. Mauerstein, auch Leser können lachen. Leser können weinen. Manchmal laut und zum Steinerweichen.

12 Nov 2014

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Frankenberg

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