taz.de -- Kommentar zur Neujahrsansprache: Die Klartext-Kanzlerin

Angela Merkel findet in ihrer Neujahrsansprache deutliche Worte zu Pegida. Sie spricht von Vorurteilen, Kälte und Hass. Nicht schlecht, Frau Bundeskanzlerin!
Bild: Sonst waren Neujahrsansprachen eher extrem öde und nichtssagend

Und sie kann es doch! Angela Merkel hat in ihrer Neujahrsansprache Klartext geredet. Mit einem Aufruf, [1][nicht zu den Pegida-Demonstrationen zu gehen], weil sie von Vorurteilen, Kälte, sogar Hass getragen seien.

Das ist ein gleich dreifacher Kulturbruch. Erstens mit der Kultur der Neujahrsansprachen, die wohl wie keine andere politische Rede für Inhaltslosigkeit stehen – so sehr, dass in den achtziger Jahren die ARD die Kohl-Ansprache vom Vorjahr versehentlich noch einmal versendete.

Zweitens mit der Merkel’schen Rhetorik des Wolkigen, des Ungefähren. Fast schien es, als wollte Merkel an Silvester gegen das Bild ankämpfen, das George Packer kürzlich in seinem Porträt im New Yorker nun auch international geprägt hat: dem der „stillen Deutschen“, der Frau, bei deren Reden im Bundestag man einschläft. So entschieden hat man Merkel öffentlich zum letzten Mal 1999 erlebt, als es darum ging, Helmut Kohl im Zuge der Parteispendenaffäre vom Sockel zu stoßen.

Und drittens hat Merkel mit einer Unionstradition gebrochen. In den neunziger Jahren schwieg die Union zu der fremdenfeindlichen Welle, die durch Deutschland ging. Bundeskanzler Helmut Kohl vermied Besuche an den Anschlagsorten Rostock, Mölln und Solingen. Die Union ritt auf der Welle, statt sie zu bremsen.

Sicher kann man argumentieren, dass Merkel auch jetzt ihrer Linie treu bleibt, sich erst zu äußern, wenn die Dinge entschieden sind. Pegida hat ihren Zenit wohl überschritten und wird in allen Städten außerhalb Dresdens nicht mehr als ein paar Dutzend Anhänger anziehen. Innerhalb der Union sind die Dinge jedoch keineswegs festgezurrt. Die Klagen von Hans-Peter Friedrich über das Vernachlässigen des rechten Randes durch Merkel mögen dem Ärger über seinen Karriereknick geschuldet sein. Aber wenn die AfD, deren Vize Alexander Gauland Pegida nach der Merkel-Rede verteidigte, weitere Wahlerfolge einfährt, wird das Murren in der Union lauter werden.

Merkels Neujahrsansprache ist wohl die erste, die man auch an Silvester 2015 gern noch einmal hören würde. Aber weil sich Pegida bis dahin erledigt hat, hilft es nicht, die alte Rede noch einmal zu senden. Die Kanzlerin müsste bei anderen Themen Klartext sprechen. Immerhin wissen wir jetzt: Sie kann es. Sie muss nur wollen.

1 Jan 2015

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Martin Reeh

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