taz.de -- Terrorexperte über Pariser Anschlag: „Das war nicht zufällig in Frankreich“
Je mehr Dschihadisten in einem Land leben, desto höher ist die Anschlagsgefahr, sagt Guido Steinberg. Daher sei auch Deutschland gefährdet.
taz: Herr Steinberg, der Anschlag in Paris war gut organisiert, aber im Vergleich zu den Anschlägen in New York, Madrid oder London deutlich weniger aufwendig. Ist das eine neue Qualität?
Guido Steinberg: Das kommt darauf an, wer dahintersteckt – und das wissen wir noch nicht. Große organisierte Anschläge in Europa hat es lange nicht mehr gegeben, der letzte war in London 2005. Wenn da eine Organisation hintersteckt wie al-Qaida oder der IS, dann ist das für die Organisation ein Erfolg, aber auf deutlich niedrigerem Niveau als früher. Wenn der Anschlag aber von einer unabhängigen, kleinen Gruppe durchgeführt wurde, Einzeltäter quasi, dann ist das ein Qualitätssprung. Vor sieben, acht Jahren sind diese Anschläge meist gescheitert, aber sie werden besser. Der Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel im April 2014 war ein Hinweis. Das ist besorgniserregend. Wenn wir uns auf Einzeltäteranschläge auf diesem Niveau einstellen müssen, dann wird es deutlich gefährlicher, als wir bislang gedacht haben.
Ist Ihrer Einschätzung nach ein Anschlag dieser Art auch in Deutschland denkbar?
Es ist kein Zufall, dass er in Frankreich stattgefunden hat. Charlie Hebdo hat enorm provoziert und war gefährdet, das wusste man. Und Frankreich hat in Europa die größte Dschihadistenszene, gefolgt von Großbritannien. Ich glaube trotzdem, dass eine ähnliche Gefahr in all den Ländern droht, die viele Dschihadisten haben. Denn das Personal macht die Strategie. Ein Franzose, der aus Syrien zurückkehrt oder von al-Qaida aus Pakistan geschickt wird, wird eher einen Anschlag in Frankreich machen, ein Deutscher eher in Deutschland. Da hier die Szene wächst und die Ausreisen nach Syrien zunehmen, steigt auch die Gefahr.
Den Anschlag auf das Jüdische Museum in Brüssel hat ein Franzose verübt.
Aber er ist französischsprachig und es ist kein Problem für einen Franzosen, in Brüssel aktiv zu werden. In Berlin schon eher. Brüssel ist sehr interessant, weil es dem Anschlag in Paris gleicht.
Inwiefern?
Mehdi Nemmouche, der Täter in Brüssel, hat sich sein Ziel auch gut ausgesucht, war bewaffnet, konnte mit der Waffe umgehen und war erfolgreich, auch wenn sich das zynisch anhört: Er hat vier Menschen getötet, das ist eine ähnliche Quote wie jetzt. Wir wissen von Nemmouche, dass er beim IS war und eine Kampfausbildung hatte. Etwas Ähnliches kann man hier mutmaßen. Diese Jungs wussten, was sie taten, und hatten offensichtlich eine militärische Ausbildung.
Ist die Gefahr eines Anschlags in Deutschland durch Paris gestiegen?
Nein, es gibt ja bereits eine Serie von Anschlägen: Brüssel, zwei Anschläge in Ottawa, Sydney, jetzt Paris. Die Gefahr ist überall dort groß, wo es Dschihadisten gibt. Und dort, wo es mehr gibt, ist sie ein bisschen größer.
Das heißt, Deutschland kommt sehr schnell nach Frankreich.
Ja. Allerdings funktionieren hier die Sicherheitsbehörden besser als in kleinen Ländern. Wenn diese, wie Österreich, Dänemark oder Belgien, zudem einen prozentual hohen Anteil an Dschihadisten haben, ist die Gefahr größer.
8 Jan 2015
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Ganz Paris träumt von der Umwelt – das Thema ist überall in der Stadt präsent. Doch eigentlich bewegt die Menschen anderes.
Belgien zieht nach dem Anti-Terror-Einsatz in Verviers seine Sicherheitskräfte zusammen. Mit Hilfe des FBI wird nach dem mutmaßlichen Kopf der Zelle gefahndet.
Razzia in der Islamistenszene: Belgien gilt als „Drehscheibe der Dschihad-Rekrutierung“. Dort ist es leicht, Waffen zu besorgen.
Der Anschlag auf „Charlie Hebdo“ wird in den arabischen Medien verurteilt. Oft genug werden dort Autoren von Satire Opfer von Gewalt.
Nach dem Anschlag in Paris rollen CSU und CDU die Debatte über die Vorratsdatenspeicherung wieder auf. Von SPD, Grünen und der Linken kommt Gegenwind.
Libérté toujours wie bei „Charlie Hebdo“? In Deutschland bleiben 100 Prozent Kunstfreiheit immer noch ein frommer Wunsch.
Im 19. Jahrhundert schuf man in Frankreich die Grundlagen drastischer Darstellungsformen. Ohne sie gäbe es weder HipHop noch Karikaturen.
Die Front-National-Chefin versucht, die Gunst der Stunde zu nutzen: Nach dem Anschlag fordert sie ein Referendum zur Einführung der Todesstrafe.
Saïd und Chérif Kouachi waren kiffende, Rap hörende, gewöhnliche Vorstadtkinder – bis sie auf einen salafistischen Prediger trafen.
Deutsche Islamverbände planen nach dem Anschlag in Paris eine Kundgebung gegen den Terror. Einer Umfrage zufolge wächst das Misstrauen.
Die Pegidas dieser Welt haben kein Recht, die ermordeten Satiriker zu instrumentalisieren. Und wer die Tat mit „Aber“ verurteilt, rechtfertigt sie.
Satire muss möglich sein, ohne dass man erschossen wird, sagt „Titanic“-Chef Tim Wolff. Nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ sollten weiter Witze gemacht werden.