taz.de -- Corona-Ausbruch auf Erntefeld: Sie muss nicht zahlen

78.000 Euro sollte eine ukrainische Erntehelferin ohne Versicherung für ihre Coronabehandlung zahlen. Nun erlässt ihr die Krankenkasse die Rechnung.
Bild: Ein weites Feld: Trotz Corona wurden auf deutschen Äckern Helfende aus Osteuropa beschäftigt

Berlin taz | Die Techniker Krankenkasse (TK) hat ihre Forderung an eine ukrainische Erntehelferin über fast 80.000 Euro für eine Coronabehandlung fallengelassen. „Die von uns wegen eines fehlenden Versicherungsschutzes zurück geforderten Behandlungskosten in Höhe von rund 78.000 Euro sind damit hinfällig“, teilte TK-Sprecher Michael Ihly der taz mit. Viktoria Szolomka war im Sommer 2020 lebensgefährlich erkrankt, als sie an der Gurkenernte in Bayern teilnahm.

Während sie in einem Krankenhaus in der Region lag, meldete ihr damaliger Arbeitgeber sie von der Versicherung ab, weshalb die TK die Behandlungskosten von ihr verlangte. [1][Als die taz zu dem Fall recherchierte,] bemühte sich die Kasse aktiv um eine einvernehmliche Lösung.

Nun sei es der TK gelungen, mit Szolomka zu telefonieren, ergänzte Ihly. Mit Hilfe einer ukrainisch-sprachigen Mitarbeiterin hätten alle offenen Versicherungsfragen geklärt werden können. „Wir konnten unsere Kundin informieren, dass sie aufgrund der im Telefonat geklärten Punkte nach dem Ende ihrer Beschäftigung Anspruch auf Krankengeld hatte.“ Sobald Szolomka der TK eine Bankverbindung mitteilt, werde sie diese Zahlung erhalten. Entscheidend ist aber vor allem: „Durch den Bezug von Krankengeld verlängert sich auch die TK-Mitgliedschaft.“ Damit war die Behandlung im Krankenhaus und einer Reha-Einrichtung von August bis Oktober 2020 abgedeckt. Szolomka schrieb der taz nun, sie freue sich sehr.

Erntehelfern, die fast alle aus Ländern wie Rumänien oder Polen kommen, steht meist nur der gesetzliche Mindestlohn von 9,82 Euro pro Stunde zu – oft abzüglich Pauschalen für Unterkunft und Verpflegung. Gewerkschafter und Betroffene kritisieren, [2][manche Landwirte würden sogar weniger zahlen als vorgeschrieben.] Szolomka lebt von den Gelegenheitsjobs ihres Mannes und hätte die 80.000 Euro an die TK kaum bezahlen können.

Szolomka bekam nach eigenen Angaben nie einen Arbeitsvertrag von dem Großbauernhof im niederbayerischen Mamming, wo sie bei der Ernte half. Deshalb konnte der Landwirt ihr Arbeitsverhältnis auch leicht beenden und sie von der Sozialversicherung abmelden. Er war nicht erreichbar für eine Stellungnahme. Sein Betrieb geriet 2020 in die Schlagzeilen, [3][als sich dort 250 MitarbeiterInnen vor allem aus Osteuropa mit Corona ansteckten.] Szolomka musste sogar auf der Intensivstation behandelt werden.

6 Mar 2022

LINKS

[1] /Versicherer-will-Geld-fuer-Coronatherapie/!5837192
[2] /Ausbeutung-in-der-Landwirtschaft/!5754151
[3] /Vorwuerfe-gegen-Gemuesehof-in-Bayern/!5707029

AUTOREN

Jost Maurin

TAGS

Erntehelfer
Landwirtschaft
Schwerpunkt Coronavirus
Krankenversicherung
Schwerpunkt Armut
Landwirtschaft
Russland
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Erntehelfer
Schwerpunkt #metoo
Erntehelfer
Schwerpunkt Coronavirus

ARTIKEL ZUM THEMA

Agrarministerium zu Arbeitsbedingungen: Gegen Sozialdumping bei der Ernte

Der Bauernverband will, dass der Mindestlohn später steigt und Erntehelfer länger ohne Sozialversicherung arbeiten. Das Agrarministerium ist dagegen.

Agrar-Dialog mit Russland ausgesetzt: Ministerium stoppt Putin-Freund

Das Agrarministerium entzieht dem Industriellen Dürr den Auftrag, Kontakte zu russischen Fachpolitikern zu organisieren. Der Dialog wird ausgesetzt.

+++ Nachrichten in der Coronakrise +++: Lockerungen der Maßnahmen geplant

Die Corona-Inzidenz in Deutschland ist leicht gestiegen. Dennoch schafft die Regierung einen Großteil der Coronaregeln ab. Österreich setzt die Impfpflicht aus.

Nachrichten in der Coronapandemie: Böhmermann hat Corona

Die Zahl der Coronaneuinfektionen steigt in Deutschland wieder deutlich. Unter den neu Infizierten ist auch der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann.

Versicherer will Geld für Coronatherapie: 80.000 Euro von armer Erntehelferin

Während die erkrankte Ukrainerin um ihr Leben kämpfte, meldete der Bauer sie bei der Krankenkasse ab. Jetzt soll die Mindestlöhnerin selbst zahlen.

Journalistinnen über MeToo-Recherchen: „Sexismus ist branchenunabhängig“

Ann-Katrin Müller und Pascale Müller haben viele MeToo-Fälle aufgedeckt. Ein Gespräch über lange Recherchen und die Nachteile prominenter Fälle.

Erntehelfer in Bayern ausgebeutet: Amtsgericht verurteilt Landwirt

Ein Gurkenerzeuger in Bayern hat den Krankenkassen hohe Zahlungen für ErntehelferInnen vorenthalten. Das Amtsgericht Landshut verurteilte ihn nun.

Erntehilfe ohne Sozialversicherung: DGB macht Druck

Dass viele Saisonkräfte legal ohne gesetzliche Krankenversicherung arbeiten können, geht nicht an, findet Rentenversicherungsvorständin Anja Piel.