taz.de -- Weihnachtsfeier mit dem Chef: Deutsche Großzügigkeit

Unser Kolumnist war bei einem Weihnachtsessen mit der Firma. Sein deutscher Chef hatte überraschend in ein teures Restaurant geladen. Nett, oder?
Bild: Wenn der Chef zur Weihnachtsfeier lädt, ist das erst mal Grund zur Freude, richtig?

Als Meister Viehtreiber die gesamte ausländische Belegschaft von Halle 4 zum Weihnachtsessen in ein teures türkisches Restaurant einlud, waren wir alle positiv überrascht, ja sogar positiv schockiert.

Die Firmenleitung hat uns in diesem Jahr bereits [1][das gesamte Weihnachtsgeld gestrichen] und die Überstundenzulage weggenommen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, heute Abend alles besonders gründlich zu kauen und dann schnell runterzuschlucken, damit man mir das Essen nicht wieder wegnehmen kann.

Und so sitzen wir nun alle, ungefähr zwanzig Personen, an einem langen Tisch. Meister Viehtreiber nimmt selbstverständlich am Kopfende Platz und ruft: „Nun haut rein, Jungs! Ihr sollt ja schließlich auch nicht leben wie ’n Hund.“

Alle lachen. Das ist bei uns im Tarifvertrag schriftlich fixiert: Wenn der Meister versucht, einen Witz zu machen, müssen alle Arbeiter lachen.

Endlich lässt der Chef mal was springen

Die Kollegen sind begeistert, endlich mal von der Firmenleitung was spendiert zu bekommen, hauen deshalb richtig rein: kalte und warme Vorspeisen, [2][Döner, Köfte, Kebab] und dazu alle möglichen Salate. Ich bestelle die Hauptgerichte von 32 bis 39. Und danach von 40 bis 47.

Nach drei Stunden sind wir so voll, dass wir uns kaum noch bewegen können. Ein Glück, dass wir eine Männergruppe sind. Alle haben nicht nur die Gürtel und die Knöpfe an ihren Hosen aufgemacht, sondern dazu auch noch die Reißverschlüsse. Ich hab meine Hose gleich bis zu den Knien runtergezogen. Obwohl ich so viel gegessen habe wie im gesamten Monat, ist trotzdem noch unglaublich viel übriggeblieben.

Zwischen zwei Trinksprüchen ruft Meister Viehtreiber nach dem Kellner: „Herr Ober, können Sie das, was auf meinem Teller liegt, für meinen Hund einpacken, bitte.“

Das ist eine fantastische Idee! Leider nicht für mich. Jeder weiß, dass ich Hunde wie die Pest hasse. Und die Reste für meine Frau einpacken zu lassen, wäre nicht besonders galant. Aber warum soll ich eigentlich nur die Reste einpacken lassen?

Ich bestelle wieder die komplette Hauptspeisenserie von 32 bis 47.„Meine Frau ist so neugierig, sie will immer ganz genau wissen, was ich ohne sie gegessen habe. Das ist alles für sie“, rufe ich in die Runde.

Meister Viehtreiber ruft: „Herr Ober, die Rechnung, bitte.“ Oh Mann, da habe ich aber Glück gehabt. In letzter Sekunde habe ich meine Bestellung abgeben können.

Das Essen ist türkisch, aber die Bezahlung ist deutsch

„Kollegen, ich danke euch, dass ihr alle da wart“, ruft unser großzügiger Meister. „Aber klar doch, Chef, ich hab extra drei Tage lang gehungert“, schmatze ich. „Das Essen war türkisch und hat mir sehr gut geschmeckt“, sagt er. „Meister, von mir aus können wir das öfters wiederholen“, rufe ich.

„Also das Essen war türkisch, aber [3][die Bezahlung ist selbstverständlich deutsch]“, vollendet er seinen Satz, bezahlt nur seinen Döner und die drei Bier, klemmt sein Resteessen unter den Arm und verlässt unter den geschockten Augen der Kollegen das Lokal.

Ich versuche mit einem der zahlreichen Kebabspieße, die vor mir liegen, Harakiri zu machen. Aber die erfahrenen Kellner erlauben es mir nicht zu sterben, bevor ich alles bezahlt habe.

23 Dec 2025

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AUTOREN

Osman Engin

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