taz.de -- Wie Polen auf Deutschland schaut: Polen sieht sich als neue Mitte Europas
In Polen weiß man um die deutsche Angst vor Russland, Trump und der Zukunft. Am Zeitungskiosk kann man das polnische Selbstvertrauen wachsen sehen.
Nicht Brüssel, sondern Warschau scheint zurzeit die Hauptstadt Europas zu sein. Ständig fliegen Minister aus allen EU-Mitgliedsländern ein, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hält ihre Reden in Polen, die Kommissare beraten wichtige EU-Themen in Warschau, Danzig, Krakau und Breslau.
Seit das Land am 1. Januar für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, stehen Berlin, Paris und Brüssel im Schatten der polnischen Hauptstadt. Viele Polen sind überzeugt, dass dies nun für immer so bleiben werde.
„Ich hätte nie gedacht, dass wir Deutschland so schnell einholen würden“, sagt ein älterer Mann halblaut vor sich hin. Dann strafft er sich und hält der Besitzerin des Kiosks an der Warschauer Metrostation Pole Mokotowskie das Titelbild der Gazeta Wyborcza hin. „Hier“, sagt er, „schauen Sie mal!“ Laut liest er vor: „Deutschland hat abgedankt, Frankreich ist gelähmt. Zum ersten Mal hängt die Zukunft der EU von Polen ab.“
Pani Grażyna, wie die Kioskbesitzerin von vielen genannt wird, gibt einer Kundin das Wechselgeld heraus und greift sich dann selbst eine Zeitung. „Ja“, nickt sie, „vor Kurzem hat die Rzeczpospolita geschrieben, dass wir die Chinesen eingeholt haben. Die Deutschen handeln inzwischen mehr mit uns als mit China.“
Dass Deutschlands Stimme in Europa und der Welt weniger zählt als noch zu Zeiten von Kanzlerin Angela Merkel, gehört in Polen zum Allgemeinwissen. Es vergeht kaum ein Tag, an dem in Polen nicht über „die deutsche Angst“ vor Russland, den USA und insbesondere der Zukunft diskutiert wird.
Deutsche Tugenden verloren
Seit Beginn des russischen Vernichtungskriegs in der Ukraine vor drei Jahren stehe deutschen Politikern diese Angst ins Gesicht geschrieben. Sie lähme nicht nur ihre Entscheidungen, sondern auch die der Unternehmer und wie im Dominoeffekt immer mehr Gesellschaftsschichten. Unter die Räder gekommen seien auch all die Tugenden, für die die Polen die Deutschen bislang geschätzt haben: Pünktlichkeit, Tatkraft, Fleiß, Ordnungsliebe und Ehrlichkeit.
„Ich finde, wir Polen sollten die Führungsrolle in der EU übernehmen“, mischt sich eine Professorin aus der Wirtschaftshochschule SGH direkt über der Metro ein. „Noch sind die Deutschen reich, aber die Wirtschaftskrise reißt das Land immer weiter nach unten. Zudem haben wir einen besseren Draht zu Donald Trump als Deutschland und Frankreich zusammen.“ Sie holt einen 50-Złoty-Schein aus dem Portemonnaie, um zwei Wirtschaftsmagazine zu bezahlen.
„Den größten Fehler, den die Deutschen gemacht haben“, antwortet ein Mann in dickem blauen Anorak mit Baseballkappe, „war der Schmu mit den Abgasfiltern in den Autos. Damit haben sie ihr ‚Made in Germany‘ kaputtgemacht. Ich jedenfalls würde nie mehr ein deutsches Auto kaufen.“
Der ältere Mann legt die Gazeta Wyborcza und ein paar Kaugummis auf die Verkaufstheke, nickt und sagt: „Schlimmer finde ich noch, dass sie ohne einen Tritt in den Hintern von uns den Ukrainern wahrscheinlich nie geholfen hätten.“
23 Feb 2025
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