taz.de -- Politikansatz von Robert Habeck: Realistischer Idealismus

Spitzenkandidat Robert Habeck will in seinem neuen Buch den grünen Markenkern überschreiten. Wie naiv ist der? Oder hat er recht?
Bild: Robert Habeck bei einem Wahlkampfauftritt in Göttingen

Ein Künstler, der Robert Habeck gut kennt, fragte mich, ob ich den fundamentalen Unterschied zwischen ihm und uns kenne. Ich kannte ihn nicht. Er sagte: „Wir sind gelernte Ironiker oder Moralisten, Habeck ist realistischer Idealist.“

Was denn nun, schnappte ich routiniert kritisch: jenseits der Wirklichkeit oder mittendrin? Wir gingen dann aber gemeinsam so ein bisserl in uns und mussten zugeben, dass wir sehr ausdauernd Harald Schmidt, Neil Young, Woody Allen sowie uns genehme Literaten und Intellektuelle studiert hatten und damit auf einer popkulturellen und etwas selbstgefälligen Grundlage an der Oberfläche der Welt herumtheoretisierten.

Habeck sagte, der Künstler, habe erst die Denker gelesen, dann in seiner mittlerweile zehnjährigen Arbeit als Landes- und Bundesminister Partei und Politik gelernt und außerdem vor Ort ständig richtige Menschen getroffen und gesehen, wie die drauf sind und wie sich das verändert. Dabei sei er aber nicht zynisch oder resigniert geworden, sondern versuche unverdrossen, seinen Idealismus konstruktiv mit der Realität zu verknüpfen.

Oje, wird da mancher stöhnen, dieser Künstler projiziert offenbar sehr Positives in Habeck, ist das überhaupt erlaubt? Aber vielleicht taugt diese These gerade deshalb, um zu verstehen, warum der Vizekanzler und in derzeitigen Umfragen beliebteste Kanzlerkandidat diesen Wahlkampf führt, wie er ihn führt und warum er sein neues Buch „Den Bach rauf“ nennt und so geschrieben hat, wie er es geschrieben hat.

Während es der populistische Spin ist, immer das Schlechteste von den anderen anzunehmen (was Linken ja nun nicht schwerfällt), glaubt Habeck an uns Menschen und die Lust, sich positiv weiterzuentwickeln. Ja, schlimmer: Er arbeitet im Detail heraus, dass alles viel komplexer ist, als wir das in der Regel wahrhaben wollen, aber dass wir es hinkriegen können, wenn wir uns auf diese Komplexität einlassen.

Habeck-Style mit Pathos-Würzung

Jetzt kann man wieder sagen: Wie naiv ist der denn? Oder kann es sein, dass man den Vizekanzler sowieso für blöd, schlimm, eitel, unsozial, unökologisch, unfeministisch hält oder für den „schlechtesten Wirtschaftsminister aller Zeiten“ (und damit Altmaier, Gabriel, Rösler, Brüderle, zu Guttenberg, Glos oder Rexrodt allesamt für besser).

Oder dass einem der Habeck-Style mit seiner Pathos-Würzung too much ist. Oder dass man seine selbstkritische Reflexionskraft als Pose interpretiert. Oder dass man einen klaren Wirtschaftsplan für die nächsten Jahre erwartet. Oder gar das Runterbeten des Grünen Parteiprogramms unter Verweis auf alle Ideale seit 1979.

In all diesen Erwartungsfällen lohnt sich die Lektüre des neuen Buchs nicht, außer um sich schön aufzuregen. Was ja auf der Höhe eines Teil-Zeitgeistes ist. Genau gegen den wendet sich Habeck, um einen anderen Zeitgeist zu schaffen. Und da kann es beim Lesen eben auch passieren, dass man in den Habeck-Flow kommt und denkt: Was soll das bringen, sich auf die Unmöglichkeit von zukunftsorientierter, liberaldemokratischer Zukunft zu verständigen?

Lass uns doch lieber genau schauen, wie man doch was hinkriegt. Es kann passieren, dass man längst nicht alles teilt, was er so schreibt, aber nach und nach zentrale Grundannahmen an sich heranlässt und daraus im Lauf der Lektüre eine neue Sicht auf die Realität, die Gesellschaft und die Politik entsteht.

Die Merkel-Ruhe ist weg

Es fängt damit an, dass es – ich interpretiere jetzt frei – gut ist, dass die Ruhe in der Bundesrepublik dahin ist. Na ja, gut ist es nicht, aber notwendig, damit es weitergehen kann.

Die [1][Ruhe der Merkel-Jahre] war auch eine geistig-politische Friedhofsruhe. Sie basierte auf der Vermeidung von Zukunftspolitik, was bedeutet hätte, sich rechtzeitig der neuen Realität zuzuwenden, Klimakrise, Demografie, veränderte geopolitische und weltwirtschaftliche Lage. Das gute alte Merkel-Deutschland reagierte nur, wenn eine Krise so akut war, dass man reagieren musste und die Leute das auch erst einmal mehrheitlich durchwinkten (Finanzmarktcrash, Atom-GAU, Griechenland, Flüchtlinge, Pandemie).

Aber selbst dieses späte Reagieren kostete die Demokratie etwas, weil es in der bundesdeutschen Kultur des parteiübergreifenden Sozialdemokratismus nicht vorgesehen war und in die Zukunft gerichtete Strukturpolitik als gefährlich für das Jetzt galt. Was man ja auch so sehen kann. Als Kollateralschaden dieser Kultur sind die großen Fragen nicht gelöst oder nicht mal angegangen (Europa, Klimapolitik, postfossil werdende Wirtschaft mit Erfolgsperspektive auf dem Weltmarkt, ggf. auch ohne China, demografische Entwicklung, Atomschutzschirm ohne USA, günstige Energie ohne russisches Gas). Und zunehmend Leute, die nicht nur die Regierung abwählen wollen, sondern die liberale Demokratie.

Was ich sagen will: Der Rechtspopulismus hat die Gesamtlage sicher nicht verbessert, die sozialen Netzwerke, ihre Oligarchen und Missbraucher haben sie dramatisch verschlechtert, das mediengesellschaftliche Gespräch ist desaströs jenseits der Probleme, um die es gehen muss. Aber die Mehrheiten für Zukunftspolitik wären auch nicht aus der alten Kultur der Ruhe entstanden und dem illusionären „Weiter so“, das die beiden bundesrepublikanischen Volksparteien des 20. Jahrhunderts beschwören.

Ein ernsthaftes Gespräch führen

Wie kann man in dieser Situation diejenigen ansprechen, die kulturell, mental und ökonomisch in der Lage sind, bedingt aufbruchsbereit zu sein, bereit, ein anderes, weniger polarisierendes und dafür ernsthafteres Gespräch zu führen, als wir das im Moment vermögen, und auf der anderen Seite bereit, harte strukturelle Änderungen zu diskutieren, vor allem in den Fragen, wie wir Europa so hinkriegen, dass wir künftig erfolgreich wirtschaften und uns so verteidigen können, dass keiner angreift? Das setzt voraus, sich auf eine Realität der Widersprüche und Zielkonflikte einzulassen.

Das ist es, was Robert Habeck mit den „Den Bach rauf“ und überhaupt in seinem Wahlkampf als Kanzlerkandidat versucht. Ich sage hier bewusst nicht: „Kanzlerkandidat der Grünen“. Habeck denkt und argumentiert nicht „als Grüner“, und man muss kein Grüner sein oder werden, um ihm folgen zu können. Selbstverständlich integriert er die Classic Grünen, aber im Grunde spricht er zu allen oder sagen wir einem beträchtlichen Teil der Gesellschaft, der sich nicht mehr an die alten Begriffe klammert (öko, links, rechts, bürgerlich, progressiv, konservativ) oder Lagerillusionen hat, weil das keine Probleme löst, sondern meist nur Identitätsvorstellungen in Abgrenzung beschreibt.

Kompromiss als Verrat

Daher plädiert er dafür, die ideologische oder identitäre Verschiedenheit möglichst zu akzeptieren, nicht aber, dass die großen Probleme liegen bleiben. Manche machen sich ja gern lustig, über den „Bündniskanzler“, aber wenn hier etwas gehen soll, braucht es diese Bündnisse jenseits der überkommenen Lager, es braucht Gewerkschaften und innovative Unternehmen, es braucht Markt und Staat, und es braucht eine starke Teilgesellschaft, die sich nicht als Protest definiert (dafür gibt es ja die rechtspopulistischen Parteien), sondern sich für gemeinsame Ziele engagiert.

Selbst wenn Habeck diese starke Minderheit gewinnt, die sich nicht grün, links, liberal oder konservativ definiert, sondern über zentrale Ziele, so ist ja doch die Frage, welche Koalition es nach der Bundestagswahl tatsächlich besser machen kann als die Vorgängerregierungen der vergangenen zwanzig Jahre. Das geht nur, wenn die Koalitionäre sich nicht über die alten Markenkerne der Parteien definieren. Die „Richtungswahl“ darf also keine zwischen Parteien mehr sein, sondern zwischen Zielen. Das aber hat auch Kollateralnachteile und wird für Union, SPD und auch für Grünen-Funktionäre [2][ein ganz weiter Weg.]

Robert Habeck hat das Partei-Markenkernübergreifende als Landesminister und auch als Vizekanzler in der Ampel praktiziert. Was ihm selbstverständlich Grünen- und Linken-Kritik eingebracht hat. In der alten Entweder-oder-Kultur galt der Kompromiss als [3][Verrat und Angepasstheit,] für Habeck ist der die demokratische Zukuftsgrundlage für alles.

Im Wahlkampf scheint dieses Markenkernübergreifende nun genau der Grund zu sein, warum die Leute über die Grünen hinaus zu ihm strömen. Zum Segen einer Schlusspointe könnte man auch sagen: Es könnte mehr Menschen als gedacht geben, für die realistischer Idealismus der notwendige Gegen-Zeitgeist ist. Nun ist die große Frage, ob man selbst dazugehören will.

20 Jan 2025

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AUTOREN

Peter Unfried

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