taz.de -- Krisen-Analyse der Grünen: Opfer der Agenda

Bei vielen Themen sind die Grünen in der Defensive und können derzeit nichts dafür. Aber an ihrer Verkaufstechnik sollten sie dann doch mal arbeiten.
Bild: Lange Gesichter bei den Grünen nach den ersten Hochrechnungen bei der Europawahl am 9. Juni

Fertig sind die Grünen offenbar [1][noch nicht mit ihrer Analyse der Europawahl und der eintrudelnden Umfragewerte]. „Geht raus und redet mit den Leuten, aber hört ihnen vor allem erst einmal zu“ – so in etwa lautet das Fazit der Grünen-Basis-Videoschalte mit den beiden Parteivorsitzenden am Mittwochabend – ist schon fast peinlich richtig-wichtig. Aber es ist noch keine Strategie.

Die 11,9 Prozent im Juni bei der Europawahl waren mau, die Forsa- und Insa-Werte dieser Woche noch schlechter. Und in Richtung der Landtagswahlen im September sieht es auch nicht gut aus – wenn auch in zwei von drei Fällen sogar über 5 Prozent, hui.

Wobei die Grünen bei allen Fehlern, die sie gewiss schon gemacht haben, erst einmal Opfer einer europäischen Agenda sind, die andere, größere Kräfte gesetzt haben: Krieg und Migration. Das grüne Gewinnerthema Klima steht dahinter zurück. Das ist beklagenswert, aber von einer kleinen Partei allein nicht zu ändern. Der klare Pro-Ukraine-Kurs, der die Grünen beim Kriegsthema auszeichnet, geht ihnen beim Migrationsthema jedoch ab. Auch das ist nichts, was die Grünen exklusiv verbockt haben.

Es ist für eine Partei mit universell-menschenrechtlichem Anspruch derzeit schlicht unmöglich, sich gegen den Grenzen-zu-Kurs des Mitte-rechts-Lagers zu behaupten. Hat sich der Eindruck eines „Zuviel“ der Migration erst verfestigt – und das ist in Deutschland der Fall –, werden im öffentlichen Streit immer diejenigen gewinnen, die ein „Weniger“ versprechen. Für abwägende Standpunkte ist erst wieder Platz, wenn vor allem CDU/CSU aufhören, Asyl und Migration als Einheiz-Material zu verwenden, und ihrerseits die Komplexität der Sache zugestehen.

Bis dahin bleibt den Grünen gar nichts anderes übrig, als an ihren Gesprächs-, sprich Verkaufstechniken vor allem gegenüber nicht-akademischen Wählerschichten zu arbeiten. Robert Habeck immerhin verfügt darüber. Auf ihn als Spitzenkandidaten zu setzen, ist darum jedenfalls keine falsche Idee.

18 Jul 2024

LINKS

[1] /Fehleranalyse-der-Gruenen-nach-EU-Wahl/!6024537

AUTOREN

Ulrike Winkelmann

TAGS

Bündnis 90/Die Grünen
Ricarda Lang
Migration
Robert Habeck
Bündnis 90/Die Grünen
Bündnis 90/Die Grünen
Kolumne Ernsthaft?
Kindergrundsicherung
Annalena Baerbock
Realos

ARTIKEL ZUM THEMA

Grüne-Jugend-Spitze tritt aus: Nicht mehr grün hinter den Ohren

Nach dem Rücktritt des Parteivorstands wirft auch die Spitze der Grünen Jugend hin. Sie will die Partei verlassen und einen neuen linken Jugendverband gründen.

Rücktritt nach Brandenburg-Debakel: Grüne suchen Neuanfang

Der Bundesvorstand tritt zurück. Minister Habeck kündigt eine Abstimmung über die Kanzlerkandidatur an.

Überreichtum in Deutschland: Ende der Schonzeit

Es wird mehr berichtet über Vermögensteuer, Erbschaftsteuer und eine globale Mindeststeuer. Eine handlungsfähige Regierung könnte diese Aufmerksamkeit nutzen.

Haushalt 2025: Grüne Projekte sind gescheitert

Mit dem Haushalt ist endgültig klar: Das war's jetzt mit der Kindergrundsicherung. Und die Grünen stehen mittlerweile als Klientelpartei da.

Baerbock will nicht mehr antreten: Jede Zeit hat ihre Aufgabe

Außenministerin Annalena Baerbock verzichtet auf eine erneute Kanzlerinnenkandidatur – wegen aktueller Aufgaben. Grüne Spitze lobt sie als Teamplayerin.

Grünen-Politiker über die EU-Wahl: „Unsere Sprache war austauschbar“

Der Grüne Rasmus Andresen kritisiert Personaldebatten und Forderungen nach härterer Asylpolitik. Blinde Flecken seiner Partei beklagt aber auch er.