taz.de -- Start-up-Kultur in Deutschland: Mit einem Bein im Gefängnis
Unser*e Kolumnist*in erzählt ungern über das eigene Start-up, zu verpönt ist das Gründen. Das muss sich ändern.
Deutschland ist kein Gründerland. Dabei braucht es dringend mehr Menschen, die Start-ups gründen. Menschen, die innovative Ideen etwickeln. Eine Hürde ist die „[1][Gründerszene]“ selbst und das, was man gemeinhin damit assoziiert. Zu oft verkommt das Gründen zu hohlen Phrasen von Politiker*innen und fragwürdigem Sozialdarwinismus.
Wenn ich auf Partys erzähle, was ich beruflich so mache, sage ich oft, dass ich selbstständig bin oder ein Softwareunternehmen habe. Mir ist es dann manchmal unangenehm, zu sagen, dass ich ein Start-up habe. Das klingt dann eher nach Krypto-Bro, nicht sonderlich seriös.
Fehlt mir das „Mindset“ zum guten „Start-up-Entrepreneur“? In sozialen Medien träumen viele Menschen von Dingen, die mit Begriffen wie „Entrepreneurship“ und „Start-up“ beworben werden. Nur bewegen sich die vermeintlichen Gurus irgendwo zwischen völligem Scam und zweifelhafter Selbstdarstellung. Oft ist es vom Social-Media-Entrepreneurship nur ein kleiner Schwenk zum Multi-Level-Marketing-Netzwerk.
Bei Start-ups häufen sich die schwarzen Schafe, etwa [2][auf der „Forbes under 30“-Liste]. Das ist sozusagen der heilige Gral für Unternehmer*innen unter 30. Wäre da nicht ein kleines Problem: Vielen ihrer Mitglieder drohen rechtliche Auseinandersetzungen. Auf dieser Liste landen augenscheinlich sehr erfolgreiche junge Unternehmer*innen – deren „Erfolg“ sich später als Betrug entpuppt.
Im großen Stil betrügen
Elizabeth Holmes etwa betrog mit ihrem Unternehmen Theranos im Multimilliardenbereich. Die [3][Krypto-Börse FTX] musste 2021 zugeben, dass ihre Reserven nicht gedeckt waren. Das Start-up Frank erfand 4 Millionen Kund*innen, um eine höhere Bewertung zu erhalten. Alles keine Ausnahmen.
Natürlich landet nicht die Hälfte aller Gründer*innen im Gefängnis. Aber es gibt ein Problem in der Industrie und ihrer Kultur: Die Investmentwelt rund um Venture Capital ist zu einem nicht unerheblichen Teil Scam. Große Kapitalgeber rechnen mittlerweile damit, hin und wieder im großen Stil betrogen zu werden.
Auf der Suche nach revolutionären Ideen prüfen die Investor*innen die Versprechen der Start-ups kaum. Erst war [4][Blockchain] im Trend, jetzt ist es [5][KI]. Bei den Kapitalgebern fehlt die Expertise und die Bereitschaft, sich diese für eine Prüfung der Wirtschaftlichkeit einzukaufen. Nach kurzer Zeit kommt schon der nächste Trend. Cloud Computing, KI und sogar Blockchain können spannende Technologien sein, lösen aber kein Problem. Innovative Software braucht eine innovative Idee.
Es besser machen als alle anderen zuvor
Die „Gründerkultur“ zieht keine Ingenieur*innen an, die aus realen Problemlösungen profitable Unternehmen mit seriösen Geschäftsmodellen machen. Stattdessen ist sie attraktiv für junge Menschen, die für schnelles Geld bereit sind, zu lügen und zu schummeln. Wer ohne große Übertreibungen ein Investment sucht, wird von denjenigen ausgestochen, die diesen Realismus als Dorn im Auge für ihren schnellen Reichtum sehen.
Die größte Disruption in der Softwarewelt ist meistens die, die ein bestehendes Problem besser löst als bisher. Weder Facebook noch Twitter oder Tesla waren die Ersten auf ihrem Gebiet: Sie haben es nur besser gemacht als alle anderen zuvor. Diese gefährliche Kultur betrifft mittelbar alle, die vielleicht ohne Bling-Bling und dreifacher KI-Blockchain-Technologie wirklich gründen wollen und dafür Unterstützung benötigen. Für sie wird diese Szene zunehmend unattraktiv, sie gründen eher nicht. Und das ist furchtbar schade.
Transparenzhinweis: In einer früheren Version dieser Kolumne hieß es, dass mehr als der Hälfte der Mitglieder der „Forbes unter 30“-Liste eine Gefängnisstrafe droht. Richtig ist, dass vielen Mitgliedern rechtliche Auseinandersetzungen, aber nicht zwangsläufig Gefängnisstrafen drohen.
22 Apr 2024
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