taz.de -- Rückzug der russischen Armee aus Cherson: Verhandlungen sind abwegig

Die Ukraine hat die strategisch wichtige Stadt von den Besatzern zurückerobert. Trotz militärischer Erfolge sind Rufe nach Verhandlungen unangebracht.
Bild: Ukrainische Soldaten an der Frontline bei Cherson am 9. November

Jetzt scheint es amtlich zu sein: Ukrainische Truppen haben [1][die Stadt Cherson zurückerobert] und Russland damit eine weitere bittere Niederlage zugefügt. Wir erinnern uns noch daran, wie Anfang Oktober im Kreml [2][die Eingemeindung von vier Regionen], darunter auch Cherson, siegestrunken zelebriert wurde. Dieser Jubel war offensichtlich verfrüht.

Doch trotz dieser jüngsten Erfolgsmeldung – derer gibt es in den vergangenen Wochen so einige – reagieren die Verantwortlichen in Kyjiw mit Zurückhaltung. Zwar ist Cherson für die Ukraine von hoher strategischer Bedeutung, um weitere von Russland besetzte Teile der Südukraine, wie die Region Saporischschja, zurückzuerobern und russischen Streitkräften wichtige Nachschubwege abzuschneiden. Doch bereits jetzt von einem echten Wendepunkt zugunsten der Ukraine zu sprechen, ist unbegründet.

Ein weiterer Aspekt für die Ukraine, um sich eine gesunde Skepsis zu bewahren, ist mindestens genauso wichtig. Mit jedem Meter russisch besetzten Bodens, den ukrainische Truppen gutmachen, werden die Rufe nach Verhandlungen lauter – in Moskau und im Westen. Dabei bleiben entscheidende Fragen nach wie vor unbeantwortet: Wer soll mit wem sprechen und worüber?

Dass Russland sich von der Vorstellung verabschiedet hätte, seine Bedingungen diktieren zu können, ist nicht erkennbar. Das Gleiche gilt für das Ziel, in der Ukraine ein größtmögliches Maß an Zerstörung anzurichten. Der Duma-Abgeordnete und Ex-Geheimdienstler Andrei Lugowoi hat gefordert, der Energieversorgung der Ukraine in Gänze den Garaus zu machen. Das ist der Mann, der 2006 in den Giftmord an dem in London lebenden übergelaufenen Agenten Alexander Litwinenko verwickelt war.

Parallel zu den Friedensappellen wird stoisch von westlichen Politikern wiederholt, es dürfe nichts über die Köpfe der Ukrainer*innen hinweg entschieden werden. Genau. Wer so redet, sollte sich auch selbst ernst nehmen. Alles andere sind billige, wohlfeile Lippenbekenntnisse. Und die braucht im Moment wirklich niemand.

10 Nov 2022

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Barbara Oertel

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