taz.de -- Das Verdrängen in Russland: Hintergrund des Grauens
Sechs Monate nach Kriegsbeginn gibt es ein seltsames Phänomen: Emigranten kehren langsam nach Russland zurück.
In verschiedenen Medien habe ich folgendes gehört und gelesen: Viele Russen, die Anfang März überstürzt nach Georgien, Armenien und in die Türkei gefahren sind, kommen zurück.
Einige haben kein Geld mehr, andere konnten an den neuen Orten keinen Job finden. Und diejenigen, die ausgereist waren, weil sie Angst vor einer Generalmobilmachung hatten, haben beschlossen, dass es in der Heimat wohl doch nicht so gefährlich ist.
Aus Riga sehe ich keine Rückkehrwelle von Russen, die hierher emigriert sind. Aber ich sehe etwas anderes. Viele fahren für eine bestimmte Zeit zurück nach Russland. Und das irritiert mich persönlich.
Eine Freundin von mir ist schon das zweite Mal in die Heimat gefahren und wiedergekommen: das erste Mal, um Sachen zu holen und ihre Mietwohnung aufzulösen. Das zweite Mal, um sich einen neuen Reisepass ausstellen zu lassen. Und nächsten Monat fährt sie wieder – um den fertigen Pass abzuholen und gleichzeitig mal wieder „in echt“ mit ihre Kollegen zusammenzuarbeiten.
Duchesse statt Coca Cola
Eine andere Freundin will zurück nach Moskau fahren, um ihre Wohnung zu verkaufen. Dafür möchte sie dort aber einige Monate bleiben – um ihren Steuerwohnsitz in Russland zu behalten und keine exorbitanten Steuern für den Verkauf zahlen zu müssen.
Ich selber denke jetzt auch schon darüber nach, ob ich nicht mal fahren sollte. Ich bin genau zwischen zwei ziemlich heftigen Zahnbehandlungen weggefahren, und in Lettland bin ich ein Niemand, nicht krankenversichert, und Zahnärzte sind hier um ein Vielfaches teurer als in Russland.
Alle, die nach Russland fahren, sagen das Gleiche: dass sich fast nichts geändert hat. Die Leute chillen auf den Sommerterrassen, trinken Sekt, sonnen sich in den Parks. Ja, Ikea und H&M haben geschlossen, statt McDonald’s gibt es jetzt etwas, das „Lecker und Punkt“ heißt und statt Coca-Cola und Sprite trinkt man jetzt die russischen Limonaden-Klassiker „Buratino“ und „Duchesse“, aber im Großen und Ganzen habe sich das Leben nicht geändert. Kein Krieg, alles gut.
Und das ist das Unheimlichste. Der Anschein von Normalität vor dem Hintergrund dieses Grauens, das die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine anrichtet. Dieser langsame, unmerkliche Zusammenbruch von allem, was in Russland in den letzten dreißig Jahren aufgebaut worden ist. Und diese seltsame Möglichkeit, still und leise dorthin zurückzukehren, von wo wir mit solchem Horror abgereist sind.
Wenn in Russland jetzt eine Lebensmittelkrise beginnen, wenn der Kriegszustand verhängt würde, wenn die Menschen massenweise auf den Straßen festgenommen würden, wenn es Ausreisesperren gäbe – das wäre alles irgendwie logischer, oder? Verständlicher. Man könnte sich selbst leichter erklären, vor welchem Horror man geflohen ist.
Aus dem Russischen [1][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [2][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA im September heraus
26 Aug 2022
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