taz.de -- Ausstellungsempfehlung für Berlin: Tüten von Welt
Jac Leirner entpuppt sich als Plastiktütensammlerin. Bei Esther Schipper setzt sie die Funde in Szene; die Besucher:innen versetzt sie in Staunen.
„Us Horizon“ tritt konzeptuell schlicht auf: Für ihre erste Einzelausstellung in der Galerie [1][Esther Schipper] hat die Künstlerin Jac Leirner auf Augenhöhe eine Doppelreihe von rund 200 Plastiktüten an den drei Wänden des Galeriehauptraums angebracht, wobei sie die untere Reihe kopfüber gehängt hat. Die Tüten stammen aus den 1980er Jahren bis heute und sind nach ihren formalen Eigenschaften wie Schriftart, Farbe und Grafikdesign geordnet.
Geht man der in Panoramasicht ausgesprochen nüchtern wirkenden, in der Nahsicht freilich voller interessanter Details steckenden und ausgesprochen lebendigen Reihe entlang, erfährt man von einem Leben, das nicht nur für die Künstlerin typisch ist, sondern für alle im Raum. Für ihre Galeristin und deren Mitarbeiter:innen, für ihre Sammler:innen und für die Besucher:innen ihrer Ausstellung.
Da sind die Tüten der Fluggesellschaften, mit denen man fliegt oder flog, die Tüten der internationalen Museen, in denen Jac Leirner ausgestellt hat und die wir alle kennen, große, bedeutende Häuser; da sind die Buchhandlungen und Plattenläden in aller Welt, in denen wir einkaufen oder eingekauft haben wie bei Tower Records, die 2006 pleitegingen.
Und schon diskutieren wir darüber, ob ‚unser Laden‘ der am Sunset Boulevard in West Hollywood war oder einer der Läden in Greenwich Village in New York. Die Frage: „Sind wir wirklich solche Snobs?“ taucht kurz auf. Denn glücklicherweise hat man keine Ahnung, was diese lustigen bunten, zwei- oder dreistellige Nummern tragenden Plastikbeutel bedeuten, die die brasilianische Künstlerin (*1961) auf einen eisernen T-Träger angeordnet hat, der am Boden den Raum quert. So weltläufig ist man doch nicht, dass man wüsste, sie werden in São Paolo beim Valet Parking verwendet.
„Us Horizon“, das merkt man spätestens jetzt, ist vielschichtiger – formal dockt er an die Arte Povera genauso an wie an Pop oder Konzeptkunst und Punk – und viel kritischer, als es auf den ersten Blick erscheint. Denn jede der Tüten repräsentiert unsere Ansprüche an das Leben, so richtig wie sie auch falsch sind.
26 Mar 2022
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