taz.de -- Die Wahrheit: Vom Alter rasiert

Black Friday bei Amazon? Oder doch good old fashioned in die Innenstadt zu Karstadt, um sich Rasierer für Kopf und Bart zu kaufen?
Bild: Schwierige Überquerung, selbst mit Baguette unter dem Arm

Diesen Text tippe ich mit der rechten Hand, weil mein linker Arm in einer Schlinge hängt und ich die entsprechende Hand einstweilen nicht benutzen soll. Zuvor hatte ich mit Brecheisen und Gummihammer 60 Quadratmeter maroder Holzdielen aus dem Boden gestemmt. Das sei, meint meine Ärztin, dem Ellbogengelenk nicht gut bekommen. Sie schiebt es auf „Überlastung“, aber ich weiß es besser. Es ist das Alter.

Das Alter schleicht sich nicht nur an, es hat mich längst im Schwitzkasten. Angedeutet hat sich das schon, als ich mir meine weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber sprechgesangskünstlerischen Darbietungen eingestehen musste. Deutlich wurde es neulich bei einem Besuch im Karstadt. Jawohl, Karstadt. Wo es nach Parfüm riecht in der Parfümabteilung, nach Leder bei den Schuhen und metallischem Schmierfett bei „Mister Minit“.

Innerlich hat die Kette, hat das ganze Konzept schon aufgegeben. Trotzdem stehen Kaufhäuser hier und da noch in der Gegend herum. Ich brauchte einen Rasierer, eigentlich zwei. Einen für den Kopf, einen für den Bart. Nachdem ich „im Internet“ stundenlang Testberichte und Scherkopfphilosophien gelesen hatte, nahm ich den Bus in die Innenstadt.

Mein Anliegen war, mich vor dem Kauf „beraten“ zu lassen. Irre Idee, ich weiß, aber im Karstadt geht das noch. In den leeren Etagen schleichen Leute herum, die wissen, wie so Dinge funktionieren. Ich schnappte mir einen Mitarbeiter, ausweislich seines Namensschildchens ein „Hans-Georg“, und trug ihm mein Anliegen vor.

Leere Etagen

Bei Hans-Georg, vielleicht schon angesichts der Leere der Etagen hätte ich argwöhnisch sein müssen. Spätestens aber, als ein weiterer Kunde – ein Mann weit jenseits der siebzig – sich zu uns gesellte und dem Beratungsgespräch lauschte: „Und wenn Sie dieses Teil hier ausfahren, dann dient das der, äh, das benutzt man dann für die …“ – „Intimrasur!“, rief der Rentner, das kenne er von seinem Enkel, und da dämmerte mir auch, klar, dass junge Menschen sich neuerdings untenrum wieder in die Zeit vor der Pubertät zurückrasieren, warum auch immer, warum auch nicht, ich mag hier keine Mutmaßungen anstellen, irgendwas Hygienisches wahrscheinlich, haha. Nein.

Jedenfalls erwarb ich, gut beraten, ein Modell von Braun (Gesicht) und eines von Philips (Kopf). Mir kam das, ich muss es gestehen, zu diesem Zeitpunkt noch völlig normal vor, mit einer „Karstadt“-Tüte den Karstadt zu verlassen, wie so ein „Karstadt“-Kunde, wenn auch ohne „Karstadt“-Kundenkarte (es hat nicht viel gefehlt).

Wo waren wir? Ach ja, beim Alter. Ich komme also nach Hause, packe die Apparate aus und beginne, mich zu rasieren (obenrum). Selbst der Umstand, dass manche Stoppel schon grau sind, half mir nicht auf die Sprünge, erst die Bemerkung der Dreizehnjährigen: „Cool, du hast dir bei Amazon neue Rasierer bestellt!“

Mir fehlte die Kraft, ihr die Wahrheit zu sagen.

26 Nov 2021

AUTOREN

Arno Frank

TAGS

Kolumne Die Wahrheit
Intimrasur
Karstadt
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Kolumne Die Wahrheit
Steueroasen
Die Wahrheit

ARTIKEL ZUM THEMA

Die Wahrheit: Schacht ins Verschlungene

Am heutigen Tag des Schachtelsatzes kann es gar nicht genug an symbolischen Einschüben geben, die in unbekannte Höhlen führen.

Die Wahrheit: Rad’a, Rad’a, Rá dad’da dada!

Heutzutage Henry Valentinos Schlager „Im Wagen vor mir“ von 1977 in die Gehörgänge eindringen zu lassen, führt zu ganz neuen Erkenntnissen.

Die Wahrheit: Sex mit der fabelhaften Amélie

Kitschfutter für Feiertage ist enorm wichtig. Damit beim Schmonzettengucken wirklich die letzten Tränen des Jahres fließen.

Die Wahrheit: J’accuse!

Für zwei oder drei Sekunden nur erscheint dem Autor kurioserweise nicht sein Leben vor dem inneren Auge, sondern zwei völlig verschiedene Gedanken…

Die Wahrheit: Kein Aufbruch nach Pandora

Der allerneueste Leak bietet auch die Woche noch eine Menge Klolektüre mit edler Prominenz – und darunter sogar einen deutschen Namen.

Die Wahrheit: Send in the Clowns – aber dalli!

Täglich zeigt das UK neue Mangelerscheinungen. Ausgerechnet Nordirland gebricht es neuerdings an Spaßmachern.