taz.de -- Bericht über Londons Pandemiepolitik: Mit „Gruppendenken“ gegen das Virus

Ein Bericht wirft der britischen Regierung Fehler in der Coronapolitik vor. So sei sie anfangs „fatalistischen“ Wissenschaftlern unkritisch gefolgt.
Bild: Die National Covid Memorial Wall in London erinnert an Menschen, die am Coronavirus gestorben sind

Berlin taz | Zwei Parlamentsausschüsse in Großbritannien haben der Regierung von Premierminister Boris Johnson schwere Versäumnisse in der ersten Phase des Kampfes gegen die Covid-19-Pandemie vorgeworfen, dafür aber spätere Erfolge gewürdigt. In ihrer [1][gemeinsamen Untersuchung, deren Ergebnis am Dienstag veröffentlicht wurde], fordern die beiden Unterhausausschüsse für Gesundheit und Wissenschaft zugleich eine breitere, öffentliche Untersuchung.

Die Regierung habe zu Beginn der Pandemie im März 2020 die Ausbreitung des Virus in der Bevölkerung als unausweichlich angesehen, statt sie verhindern zu wollen, und daher zu spät auf radikale Lockdowns und andere Schutzmaßnahmen gesetzt, so der zentrale Vorwurf. „Zusammen mit vielen anderen Ländern in Europa und Nordamerika beging das Vereinigte Königreich einen ernsten frühen Fehler, als es diesen fatalistischen Weg verfolgte und keinen entschlosseneren und rigoroseren Weg zum Stopp der Ausbreitung des Virus wählte wie viele ost- und südostasiatische Länder.“

Anders als damals von Kritikern suggeriert, habe die Regierung Johnsons mit dieser Haltung aber nicht Empfehlungen aus der Wissenschaft ignoriert, sondern umgekehrt diese viel zu unkritisch umgesetzt. „In den ersten drei Monaten entsprach die Strategie der offiziellen wissenschaftlichen Empfehlung an die Regierung, die akzeptiert und umgesetzt wurde“, so der Bericht, der von einem „Gruppendenken“ spricht. Es habe bei Beratungen zwischen Wissenschaftlern und Politikern an „strukturierter Gegenrede“ gefehlt, und bei der Umsetzung von Maßnahmen seien „operationelle Unzulänglichkeiten“ zutage getreten.

„Ein kompletter Lockdown war unvermeidlich und hätte früher kommen müssen“, so der Bericht – das ist nach der Veröffentlichung auf Kritik gestoßen. Auf breite Zustimmung stößt hingegen die bereits in vielen Medienberichten geäußerte Feststellung, man habe zu spät daran gedacht, das Leben der Ältesten zu schützen. Um Krankenhausbetten freizuhalten, wurden nämlich zu Beginn der Pandemie viele ältere Patienten in Pflegeheime überwiesen, oft ohne Covid-19-Tests und ohne Behandlungskapazitäten für Infizierte in den Heimen. Das kostete viele Menschenleben.

Kritik an Testkapazitäten, Lob für die Impfstoffentwicklung

Kritisiert werden mangelnde Testkapazitäten: Großbritannien habe zwar im Januar 2020 als eines der ersten Länder der Welt einen Covid-19-Test entwickelt, dann aber zu lange kein effektives Test- und Nachverfolgungssystem entwickelt. Viel Lob bekommt demgegenüber die rasche Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen, „wesentlich“ durch frühzeitige Staatsinvestitionen ermöglicht, und ihr rascher Einsatz – „eine der effektivsten Initiativen in der Geschichte der britischen Wissenschaft und Verwaltung“.

Die beiden Parlamentsausschüsse werden von Johnson-Kritikern geleitet: Ex-Gesundheitsminister Jeremy Hunt, Johnsons Hauptrivale beim Kampf um die Führung der Konservativen nach dem Rücktritt der Premierministerin Theresa May im Jahr 2019, und Ex-Wirtschaftsminister Greg Clark, den Johnson im Brexit-Streit aus der konservativen Parlamentsfraktion warf. Sie starteten ihre gemeinsame Untersuchung im Oktober 2020. Anhörungen liefen bis Juni 2021.

„Es geht uns nicht um Schuldzuweisungen“, so der Bericht. „Unsere Schlussfolgerungen und Empfehlungen sollen diese und zukünftige Regierungen in die Lage versetzen, sich auf zukünftige Bedrohungen vorzubereiten und den unmittelbaren Umgang mit Covid-19 zu verbessern.“

12 Oct 2021

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[1] https://committees.parliament.uk/publications/7496/documents/78687/default/

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Dominic Johnson

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