taz.de -- Cem Özdemir über Angriff auf Erk Acarer: „Rote Linie längst überschritten“

Türkische Faschos fühlten sich hierzulande pudelwohl, sagt Cem Özdemir. Für den regimekritischen Journalisten Erk Acarer hätte es noch schlimmer kommen können.
Bild: Cem Özdemir hat eine Initiative für ein Verbot der rechtsradikalen Grauen Wölfe gestartet

taz: Herr Özdemir, der regierungskritische türkische Journalist Erk Acarer, der hier im Exil lebt, [1][ist in Berlin angegriffen worden]. Was wissen Sie über den Fall?

Cem Özdemir: Ich habe mit ihm, aber auch mit seinem Kollegen Can Dündar gesprochen, der ebenfalls am Fall des „Aussteigers“ und [2][Ex-Mafia-Paten Sedat Peker] arbeitet. Der lässt gegenwärtig eine Bombe nach der anderen platzen, die die Verwicklungen Ankaras in Drogen- und Waffenhandel, Auftragsmorde und Zusammenarbeit mit Islamisten dokumentieren. Darin dürfte wohl die Ursache für den Angriff liegen.

Acarer selbst geht von einem Angriff von Anhängern des türkischen Präsidenten Erdogan aus, das LKA ermittelt. Wie schätzen Sie das ein?

Erstmal hat Erk Acarer großes Glück gehabt, dass die Täter von ihren Waffen keinen Gebrauch machen konnten. Es hätte noch schlimmer kommen können. Es ist ein Zeichen, dass der Terror des Erdogan-Regimes auch nicht vor Deutschland halt macht.

Was heißt das für den Einfluss von Erdogan in Deutschland?

Türkei-Stämmige schauen, wer in Deutschland mehr zu melden hat, wenn es um ihre Sicherheit und ihre Zukunft geht. Angesichts von Staatsverträgen mit Ditib, Milli Görüs und Co in unterschiedlichen Bundesländern, möglichen Rundfunkbeiratssitzen für Islamisten, Erdogan-TV über Kabel ohne einen einzigen Oppositionssender und einer Kuschelpolitik von Frau Merkel und Herrn Maas gegenüber Ankara kann ich die Angst nur allzu gut nachvollziehen. Die Bundestagswahl ist auch eine Entscheidung darüber, ob [3][Erdogan] hier Platz hat oder nicht. Laschet und Scholz stehen für Appeasement. Die Grünen und ich für klare rote Linien, deren Überschreitung Konsequenzen haben muss. Die rote Linie ist seit Langem überschritten.

Was bedeutet das für die türkische Community?

Dieser Akt soll Angst und Schrecken verbreiten unter den Exilanten und allen, die in Opposition zum ultranationalistisch-islamistischen Mafia-Regime in Ankara stehen. Niemand glaubt daran, dass Berlin willens oder in der Lage ist, Ankara adäquat zu antworten. Ich übrigens auch nicht.

Was bedeutet das für Sie persönlich?

Ich habe meine Entscheidung getroffen, als ich die Initiative für die Armenienresolution gestartet habe und jüngst für ein Verbot der rechtsradikalen Grauen Wölfe. Es gibt kein Zurück. Meine persönlichen Dinge habe ich geregelt und ansonsten vertraue ich auf Polizei und BKA und darauf, dass immer genug Leute nachwachsen, die sich Ultranationalismus, Fundamentalismus und Mafia entgegenstellen. Ansonsten habe ich natürlich auch Verantwortung für meine Familie und mein Team.

Reicht der Schutz, den die deutschen Sicherheitsbehörden bieten?

Ist die Frage ernst gemeint? Fragen sie doch die Exilanten, was passiert, wenn sie beispielsweise von türkisch-nationalistischen Taxifahrern bedroht werden. Nichts. Die türkischen Faschos hierzulande fühlen sich pudelwohl und sind sich ihrer Sache sehr sicher.

Acarer wurde in der Türkei angeklagt. Welche Rolle spielt er als Journalist?

Es geht um die gefährlichste Enthüllung für Erdogan und sein Bündnis mit der organisierten Kriminalität. Er schreibt all die Dinge, die dort nicht mehr ohne Gefahr für Leben und Sicherheit geschrieben werden können. Ein mutiges Zeichen wäre es, wenn Berlin die Whistleblower hier aufnehmen würde und ihnen die Möglichkeit geben würde, hier auszupacken. Erdogan lässt gerade Jagd auf sie machen.

8 Jul 2021

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AUTOREN

Sabine am Orde

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