taz.de -- Neues Infektionsschutzgesetz: Notbremse zieht schon am Wochenende

Die Länder kritisieren im Bundesrat das Gesetz zum Infektionsschutz, erheben aber keinen Einspruch. Der Modellversuch in Tübingen muss abbrechen.
Bild: Die Notbremse ist gezogen, bremst jetzt der Virenzug?

Freiburg taz | Die „Bundesnotbremse“ wird an diesem Freitag in Kraft treten und am Samstag wirksam werden. Der Bundesrat erhob am Donnerstag keinen Einspruch gegen die Änderung des Infektionsschutzgesetzes, und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier unterzeichnete das Gesetz bereits kurz danach. Am Nachmittag erfolgte die Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt.

Was nach einem glatten Ablauf klingt, hörte sich im Bundesrat aber ganz anders an. Die Ministerpräsidenten übten teils heftige Kritik. Viel Einfluss hatten die Länder in diesem Verfahren aber nicht. Das Gesetz war so gestaltet worden, dass die Länder nicht zustimmen mussten.

Am Mittwoch hatte bereits der Bundestag [1][mit den Stimmen von CDU/CSU und SPD das Gesetz beschlossen.] Nun gelten automatisch massive Einschränkungen, wenn der Inzidenzwert in einem Landkreis drei Tage lang über 100 liegt: Ausgangssperren ab 22 Uhr und weitgehende Verbote für Sport, Kulturveranstaltungen und Einzelhandel. Schulen und Kitas sollen erst [2][ab einem Inzidenzwert von 165 schließen.]

Diese Anforderungen gelten nun bundeseinheitlich. Doch Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) wies darauf hin, dass es weiterhin einen „Flickenteppich“ geben werde. „Die Notbremse gilt ja nur in den Landkreisen mit einer Inzidenz über 100. Das kann in Frankfurt so sein und in Offenbach wieder anders.“ Bouffier kritisierte auch, dass die Bundesnotbremse massiv in Grundrechte eingreife, weil das Gesetz bereits alles vorgebe. Dieses „Abwägungsverbot“ für die Exekutive sei „verfassungsrechtlich problematisch“.

Ministerpräsident Reiner Haseloff (Sachsen-Anhalt, CDU) wies ergänzend auf den reduzierten Rechtsschutz hin. „Gegen die Verordnungen der Landesregierung konnte das Oberverwaltungsgericht eingeschaltet werden. Gegen das Gesetz gibt es nur noch das Bundesverfassungsgericht.“

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) rechnete genüsslich vor, dass die Kanzlerin das Gesetz bereits Ende März in der Talkshow bei Anne Will angekündigt hatte. „Es ist eben doch nicht so einfach, einen tragfähigen Kompromiss zu finden“, so Müller. Die Bund-Länder-Runden seien flexibler und schneller gewesen, betonten mehrere Redner.

Reiner Haseloff kritisierte das Gesetz am schärfsten: „Der heutige Tag ist für mich ein Tiefpunkt in der föderalen Kultur der Bundesrepublik“. Tatsächlich beantragte dann aber kein einziges der 16 Bundesländer einen Einspruch, weil dieser ohnehin nur verzögernde Wirkung gehabt hätte. Die zweistündige Debatte endete damit ohne Abstimmung.

Es gab nur zwei Entschließungsanträge, die aber auch beide abgelehnt wurden. Schleswig-Holstein (CDU/FDP/Grüne) hatte eine Kritik der Inzidenzwerte gefordert, die als Auslöser für Grundrechtseingriffe nicht geeignet seien. Bremen (SPD/Grüne/Linke) wollte, dass sich die Länder für eine Testpflicht in Betrieben einsetzen.

Auch Tübingen macht wieder dicht

Mit Inkrafttreten der Bundesnotbremse sind die Länder in der Pandemiebekämpfung aber nicht völlig entmachtet. Für Landkreise mit einem Inzidenzwert unter 100 gelten weiter die Länderverordnungen. Hier können auch Lockerungsprojekte fortgeführt werden. In den allermeisten Landkreisen liegt der Inzidenzwert derzeit allerdings über 100.

Deshalb muss auch das Modellprojekt der Stadt Tübingen abgebrochen werden. Dort konnten die Bewohner, wenn sie negativ getestet wurden, schon seit Wochen wieder halbwegs normal einkaufen und die Außengastronomie nutzen. In Tübingen selbst liegt die Inzidenz zwar noch unter 100, maßgeblich ist nun aber der Landkreis Tübingen, dessen 7-Tage-Inzidenz bei 184 liegt.

Doch auch über einer Inzidenz von 100 können die Länder noch handeln. Laut Gesetz sind strengere Eingriffe möglich. So wird in Baden-Württemberg die Ausgangssperre bereits ab 21 Uhr, also eine Stunde früher gelten.

Die Augen richten sich jetzt auf das Bundesverfassungsgericht. Ab Inkrafttreten des Gesetzes können Verfassungsbeschwerden und Eilanträge eingereicht werden. Diese sind auch bereits zahlreich angekündigt, etwa von FDP-Politikern, den Freien Wählern, dem SPD-Mann Florian Post und der Gesellschaft für Freiheitsrechte.

22 Apr 2021

LINKS

[1] /Aenderung-des-Infektionsschutzgesetzes/!5768155
[2] /Grenzwerte-fuer-Bundesnotbremse/!5768119

AUTOREN

Christian Rath

TAGS

Schwerpunkt Coronavirus
Pandemie
Lockdown
Bundesrat
GNS
Föderalismus
Senat Bremen
Bundesverfassungsgericht
Demonstration
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus
Schwerpunkt Coronavirus

ARTIKEL ZUM THEMA

Lob des Föderalismus: Flickenteppich des Grauens

Die Bundesländer werden 75: Faszinierende Geschichten haben sie hervorgebracht. Die Demokratie stärken sie. Deswegen werden sie gehasst.

Testpflicht in Unternehmen: Bremen testet Corona-Sozialismus

Corona-Tests sind in Zukunft nicht nur an Schulen, sondern auch in Unternehmen und der Verwaltung Pflicht, zumindest im Stadtstaat Bremen.

Verfassungsklagen gegen die Notbremse: Kein Ersatzgesetzgeber

Beim Bundesverfassungsgericht trudeln nun Verfassungsbeschwerden gegen die Notbremse ein. Die Kläger scheinen das Gericht für eine gute Fee zu halten.

Linker Protest gegen Pandemiemaßnahmen: Lockdown statt Ausgangssperre

Gegen Coronaleugnung und autoritäre Ausgangssperren: Bremer Antifas demonstrieren für einen Lockdown des Kapitals.

Aktuelle Nachrichten zur Coronakrise: Hälfte der Briten geimpft

28 Millionen Menschen auf der Insel haben ersten Piks erhalten. Nur einzelne Verstöße gegen Ausgangssperren. Belgien will Patienten nach Deutschland verlegen.

Ausgangssperre wegen Notbremse: Abgeordnete klagen in Karlsruhe

Mehrere Berliner Abgeordnete von Linkspartei und SPD gehen juristisch gegen die Ausgangssperre vor. Sie gilt bereits Samstagnacht.

Übersicht zur Corona-Notbremse: Was gilt bei welcher Inzidenz?

Seit diesem Samstag ist die bundesweite Corona-Notbremse in Kraft. Doch welche Regeln gelten wo? Und wie lange? Eine Übersicht.

Aktuelle Nachrichten in der Coronakrise: Berlin gibt AstraZeneca-Vakzin frei

Auch Berlin erlaubt Impfungen mit dem Impfstoff für alle Altersgruppen – unabhängig von der Priorisierung der Impfverordnung. Die Bundesnotbremse ist beschlossen.

Änderung des Infektionsschutzgesetzes: Ausgangssperren weiter umstritten

Mit den Stimmen von Union und SPD hat der Bundestag die Bundesnotbremse beschlossen. Die Opposition kritisiert die Ausgangsbeschränkungen.