taz.de -- Persönliche Propaganda: Die wandelnden Litfaßsäulen
Der Kardashian-Clan hat mehr Follower als Europa Einwohner: „Influencer: Die Ideologie der Werbekörper“ von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt.
Influencer*innen erregen im Kosmos der sozialen Netzwerke oft die Gemüter und sorgen für virale Posts oder Tänze, die um die Welt gehen. Weil die wandelnden Litfaßsäulen unserer Zeit scheinbar spielerisch das Marketing der letzten zehn Jahre revolutioniert haben, erscheint im Suhrkamp Verlag nun ein Sachbuch über das Phänomen. „Influencer: Die Ideologie der Werbekörper“ wurde vom Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler Ole Nymoen und dem Kulturwissenschaftler Wolfgang M. Schmitt verfasst.
Der akademische Hintergrund beeinflusst die Influencer-Betrachtung: Marx und sein Kapitalbegriff sind da ein Muss, schließlich ist „die Arbeit am Selbst und am Körper“, wie die Autoren sagen, „ein wichtiges Neuland der Kapitalakkumulation“.
Besonders interessant ist jedoch, dass die Autoren nicht nur aus Distanz über Influencer*innen schreiben. Sie selbst besitzen Praxiserfahrungen auf Youtube und im Podcast-Bereich, die allerdings – entscheidender Unterschied – nicht auf Werbeeinnahmen abzielen, sondern nur ein breites Following anstreben.
Schmitt ist selbst unter die Youtuber gegangen
Schmitt ist 2011 mit [1][seinem Kanal „Die Filmanalyse“] unter die Youtuber gegangen und dürfte den Wandel von Youtube und den Aufstieg des Influencer-Konzepts auf der Video-Plattform deshalb genau beobachtet haben.
Sei es auf Youtube, Instagram oder Tiktok – durch ihre Recherchen zu Influencer*innen haben die Autoren offensichtlich eine Abneigung gegen dieses Werbeformat entwickelt. Dieses Gefühl vermittelt jedenfalls die Lektüre und manchmal denkt man, die Autoren wollten Influencer*innen in ihrem Handeln nicht analysieren, sondern entlarven.
Das wird besonders in den Einleitungen zu den verschiedenen Kapiteln deutlich, in denen stets ein anonymes, klischeetypisches Bild beschrieben wird. In „Einflussreiche Körperbilder“ schreiben sie über ein männliches Calvin-Klein-Unterwäsche-Model: „Der kräftige Hals führt zu einem Körper, der jeden Versuch, Naivität und Unschuld auszustrahlen, nicht bloß kokett, sondern gänzlich albern erscheinen lässt.“ Der Verriss scheint jedoch überflüssig, wäre doch die objektive Beschreibung stark genug, um das „Alberne“ in der Darstellung zu erahnen.
Schockierende Reichweite der Influencer*innen
Trotzdem lohnt die Lektüre. Die wissenschaftlichen Abschnitte heben interessante Aspekte hervor, denen man sich als Außenstehende nicht bewusst war. So schockiert zum Beispiel die unglaubliche Reichweite mancher Influencer*innen, von denen Politiker*innen oder Aktivisten*innen nur träumen können.
Die Followerzahl der [2][der Kardashian-Jenner-Familienmitglieder]– im Buch Influencer-Avantgarde genannt – übersteigt beispielsweise zusammengerechnet die Einwohnerzahl Europas. Dass Kylie Jenner beim Verfassen des Buchs knapp 200 Millionen, heute aber bereits 218 Millionen Personen auf Instagram folgen, zeigt, dass Influencer*innen noch lange nicht ihre maximale Reichweite erreicht haben.
Die Verantwortung, die damit einhergeht, wird oft unterschätzt. Besonders unrealistische und bearbeitete Körperbilder sowie traditionelle Rollenbilder, die viele Influencer*innen promoten und als Selbstermächtigung verkaufen, sehen die Autoren zurecht kritisch.
Trotzdem ist zu bezweifeln, ob das Publikum wirklich so unaufgeklärt ist, wie es die Autoren annehmen. Nymoen und Schmitt schreiben, dass die Werbung als eine Bereicherung wahrgenommen wird und sich das Publikum mit den Influencer*innen stark identifiziert. Sie sehen darin eine Gefahr. Doch muss einem Influencer-Profil zu folgen bedeuten, dass man allem zustimmt? Es ist ein schmaler Grad zwischen Sympathie und der zeitgenössischen Intelligenz des „Sich-Verkaufens“, auf dem die Influencer*innen sich bewegen. Genauso ihre Follower.
21 Mar 2021
LINKS
AUTOREN
TAGS
ARTIKEL ZUM THEMA
Endlich ist der letzte Roman von Qiu Miaojin auf Deutsch erhältlich. Er demonstriert, warum die taiwanische Autorin zur queeren Ikone wurde.
Kim Kardashian hat einen neuen Dreh gefunden und inszeniert sich als White-Trash-Ikone. Damit erreicht sie sehr viele Menschen.
Wer sind die Menschen, für deren Make-up-Tipps und Modeempfehlungen sich so viele interessieren? Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt geben Antworten.
Ulrike Sterblich erzählt von deutsch-amerikanischen Amphetamin-Freundschaften. Und liefert eine eigens kuratierte Playlist zu ihrem Roman.
Noch gibt es viel zu tun in der Gendergap im Kunstbetrieb. Daimler Contemporary in Berlin zeigt mit „31:Women“ nur Künstlerinnen aus ihrer Sammlung.
Komikerin Celeste Barber parodiert auf Instagram Influencer. Damit ist sie auf das Cover der „Vogue“ gekommen. Erstaunlich selbstironisch.
Austausch längs der neuen Wirtschaftsroute: Im KunstHaus Potsdam bringt Andreas Schmid Werke von Chinareisenden zusammen.